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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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vergaß seine Bedenken und marschierte zielstrebig den Abhang hinab darauf zu.
    Die Bäume wurden spärlicher, bis Grant schließlich auf eine kleine Lichtung gelangte. Dort schien ein großer Maulwurf am Werk gewesen zu sein: Ringsherum waren Erdhügel aufgeworfen, die allerdings schon einige Jahre alt zu sein schienen, denn ihre Seiten waren mit Unkraut und Wildblumen bewachsen. Bei einem ragte sogar ein junges Bäumchen aus der Spitze. Am Rand der Lichtung stand, recht schief und krumm, ein Holzschuppen, dessen Tür offen in den Angeln hing.
    «Hier drüben.» Zwischen den Bäumen klang seine Stimme unangenehm laut. Er fragte sich, wer sie wohl noch alles hören konnte. Schadet auch nicht mehr , dachte er; Jackson hätte man kaum überhören können.
    Der Amerikaner kam auf die Lichtung gestolpert, wobei er unterwegs drei herabhängende Äste abriss. Offenbar war er ebenfalls ein wenig nervös; als er aus dem Unterholz trat, sah Grant, wie er den Colt in seine Hosentasche schob. Die Auswölbung hatte etwas Mehrdeutiges.
    Er warf einen Blick in den leeren Schuppen. «Sieht aus, als wäre uns jemand zuvorgekommen.»
    «Wahrscheinlich Dorfbewohner, die hier eingebrochen sind, um an die Werkzeuge zu kommen.»
    «Meine Güte.» Jackson schüttelte angewidert den Kopf. «Kein Wunder, dass die Roten hier solchen Zulauf haben.»
    «Die Menschen hungern», stellte Grant unverblümt fest. «Sie haben seit sechs Jahren kein richtiges Essen mehr auf dem Tisch. Und jetzt sind sie auch noch zu einem Spielball der internationalen Politik geworden, werden von einem Land zum nächsten getreten. Sie aber wollen bloß überleben. Deshalb haben die Kommunisten hier Zulauf. Sie sind die Einzigen, die ihnen Hoffnung bieten.»
    Jackson musterte ihn ungläubig. «Sind Sie noch ganz bei Trost? So was können Sie doch nicht sagen. Nach dem, was auf Lemnos vorgefallen ist, könnte es immerhin sein, dass die Roten uns schon auf den Fersen sind.»
    «Die haben schon ein Talent dafür, plötzlich und unerwartet …»
    Grant schnellte herum, den Webley bereits in der Hand. Doch er war zu langsam. Auf der anderen Seite der Lichtung war ein Gewehr aufgetaucht, durch dessen Visier ihn blinzelnd ein Auge fixierte.

    Reed und Marina saßen einander an dem langgezogenen Tisch in der Bibliothek gegenüber, getrennt von einer Mauer aus Büchern. Reeds Tischseite war übersät mit zerknitterten Papierbogen: halb ausgefüllte Raster, Listen, Diagramme, ausgestrichene Wörter und Kritzeleien, die aussahen wie kalligraphische Fingerübungen. Marina ihm gegenüber begnügte sich mit einem einzelnen Buch, einem Notizblock und einem gespitzten Bleistift. Anders als bei Reed war das Papier bei ihr noch nahezu leer.
    Sie stieß einen Seufzer aus – einen von der Sorte, die zu einer Nachfrage einlädt. Der weiße Haarschopf gegenüber blieb weiter über seine Arbeit gebeugt. Eine Feder kratzte hektisch über Papier. «Das ist ein solches Durcheinander», sagte sie dann, um endlich eine Reaktion zu ernten.
    Reeds Hornbrille tauchte über den Büchern auf. «Wie bitte?» Er wirkte erschrocken, ob wegen irgendeiner Entdeckung, die er gerade gemacht hatte oder nur darüber, an ihre Gegenwart erinnert worden zu sein, wusste sie nicht zu sagen.
    «Ich habe mir die Odyssee noch einmal vorgenommen – um zu sehen, ob ich irgendwelche Hinweise darauf finde, was Odysseus mit dem Schild gemacht haben könnte.»
    «Entdeckungsreisende und Philologen versuchen schon seit Jahrhunderten, die Irrfahrten des Odysseus auf der Landkarte nachzuvollziehen», sagte Reed. «Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.»
    Sie sah ihn ernüchtert an. «Wieso?»
    Reed stülpte die Kappe auf seinen Füller und rückte einen Band von Der Palast des Minos beiseite, der das Gesichtsfeld zwischen ihnen verstellte. Geistesabwesend schob er seine Brille die Nase hinauf. «Wer glauben Sie, ist der Autor von Ilias und Odyssee ?»
    Sie lachte. «Wenn man in Griechenland zur Schule gegangen ist, weiß man, dass es darauf nur eine Antwort gibt: Homer. Pemberton hat mich früher immer damit aufgezogen. Er sagte, das sei eine Fangfrage, weil die Gedichte nicht von einem einzigen Verfasser stammten. Vielmehr seien sie die Produkte einer jahrhundertealten mündlichen Überlieferung, weitergereicht und bearbeitet von einer Generation von Dichtern zur nächsten.» Ein trauriger Unterton stahl sich in ihre Stimme. «In der letzten Fassung der Gedichte nach Spuren des Originals zu suchen, nannte er ebenso

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