Der vergessene Tempel
nieste, verlor das Gleichgewicht und ruderte wild mit den Armen. Was nicht gerade hilfreich war. Die Leiter schwankte wie ein Pendel und knarrte dabei so bedenklich, dass Reed schon befürchtete, sie würde jeden Moment zusammenbrechen. Mit einem leisen Aufschrei ließ Marina das Buch los und suchte mit beiden Händen Halt am Leiterrahmen.
Das Buch plumpste schwer hinab und landete mit einem dumpfen Geräusch in Reeds Armen. Er verzog das Gesicht, stellte es beiseite und hielt die Leiter fest, bis Marina hinuntergeklettert war. Bei der Kletterpartie war ihr Kleid an ihrem Unterkleid hochgerutscht, und sie zog es hastig nach unten.
Reed legte das Buch auf den Tisch und schlug es auf. Unter dem Deckblatt kamen zwei tote Fliegen zum Vorschein.
«Offenbar ist es seit zweitausend Jahren nicht mehr ausgeliehen worden», witzelte Muir.
«Die Chrestomathie ist eine literarische Anthologie; eine Art klassisches Reader’s Digest . Sie wurde um das fünfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung von einem Gelehrten namens Proklos zusammengestellt – über den wir so gut wie nichts wissen.»
Während Reed die Seiten umblätterte, sahen die beiden anderen, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Buch handelte. Es ähnelte eher einem Einklebealbum, denn es bestand aus lauter maschinengeschriebenen Papierstreifen, die mit der Schere ausgeschnitten und dann auf die leeren Seiten geklebt worden waren. Nicht selten hatten sie sich gelöst und waren mit Klebeband erneut fixiert worden. Anscheinend war die Arbeit noch nicht abgeschlossen: Viele Ausschnitte waren mit Tinte durchgestrichen oder berichtigt worden, wenn sie nicht gar mit neuen Exzerpten überschrieben worden waren. Manche Fragmente bestanden bloß aus einzelnen Sätzen; andere wiederum umfassten ganze Abschnitte. Alle Texte waren in Griechisch geschrieben.
«Das ist eine Sammlung der Fragmente, die sich erhalten haben.» Reed fuhr mit dem Finger eine Seite hinab.
«Fragmente – meinen Sie damit Fetzen Pergament oder Papier oder worauf auch immer das geschrieben stand?»
Reed schüttelte den Kopf. «Nur ganz selten. Sehr viel häufiger sind es kurze Textabschnitte, die uns als Zitate in anderen, mehr oder weniger intakt erhaltenen Werken überliefert wurden. Denken Sie an Shakespeare. Selbst wenn uns seine Stücke nicht in vollständigen Texten vorlägen, könnten wir sie immer noch – teilweise – aus den Schriften all der nachfolgenden Gelehrten rekonstruieren, die aus ihnen zitiert haben. Manche Zitate würden sich überlappen, sodass man sie zusammenstückeln könnte; bei anderen würde einem die Kenntnis der Handlung dazu verhelfen, ihre ungefähre Position im Stück zu erschließen. Alles, was der menschliche Geist hervorbringt, droht immer vom Mahlstrom der Zeit und der Geschichte ausgelöscht zu werden, doch nichts geht je völlig verloren. Es überdauert, wie Keramikscherben, die vergraben im Erdreich ruhen. Da haben wir es ja.»
Sein Finger machte bei einem längeren Auszug halt, der beinahe die gesamte Seite ausfüllte. «Die Aethiopis . Arctinus von Milet.»
«Haben Sie nicht gesagt, das wäre von diesem anderen Typen, Proklos?», sagte Muir.
«Proklos hat die Chrestomathie geschrieben», erklärte Reed geduldig. «Aber dabei hat er nur die Schriften anderer Autoren zusammengefasst – in diesem Fall des Arctinus von Milet. Später haben manche der Schreiber, welche Abschriften der Ilias anfertigten, Auszüge von Proklos als ergänzendes Material angefügt.»
«Was für verschlungene Wege», sagte Marina staunend. «Fast wie ein Virus, der sich von einem Wirt zum nächsten überträgt, bis er einen findet, der überlebt.»
«Ja, schön und gut», blaffte Muir. «Was steht drin?»
«Wir sollten die Polente einschalten.»
Grant starrte Jackson an. Sie befanden sich auf dem Rückweg den Hügel hinab, unter ihren Stiefeln knackten die Zweige und Eicheln.
«Sein Cousin hat dieses Ding gestohlen, richtig? Also weiß er vermutlich mehr, als er erzählt. Da fände ich es nur sinnvoll, wenn wir ihn von den hiesigen Bullen zur Vernehmung einbestellen lassen. Dürften wahrscheinlich die letzten Volltrottel sein, aber was soll’s? Vielleicht können die ihn ein bisschen mürbe machen. So oder so, auf jeden Fall haben wir ihn dann da, wo wir ihn haben wollen.» Er bemerkte Grants fassungslosen Blick. «Was denn? Ich habe Ihre Akte gelesen. Ich weiß, was Sie im Krieg so alles getrieben haben. Auch über das Mädchen. Stimmt das wirklich alles? Das muss ja eine
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