Der vergessene Tempel
ganz Abgebrühte gewesen sein.»
«Die Polizei sollten wir nur einschalten, wenn es wirklich nicht anders geht», beharrte Grant. Er schüttelte zornig den Kopf. Irgendetwas ergab keinen Sinn, aber ihm wollte nicht einfallen, was genau. Es war ein bisschen so, als fehle bei einem Puzzle nur noch ein allerletztes Stück – doch die Schachtel war leer.
Mit Verspätung kam ihm zu Bewusstsein, dass Jackson gerade etwas gesagt hatte. «Was?»
«Ich sagte gerade, wir könnten den Hügel von einem Trupp Leute umgraben lassen. Wir wollen doch die andere Hälfte der Tafel finden, stimmt’s? Wenn der Kerl mit den Schweinen sagt, sie hätten nur ein Stück gefunden, dürfte das andere wohl noch da oben sein. Hat doch der Professor auch gesagt.»
«Das zweite Stück.» Grant blieb unvermittelt stehen. «Belzig wusste, wie viel diese Tafel wert war. Wenn er nur eine Hälfte davon gefunden hätte, warum ist er dann nie wieder hergekommen, um nach der anderen zu suchen?»
Jackson sah verwirrt drein. «Wieso?»
Aber Grant hatte ihn längst vergessen. Er rannte bereits wieder den Hang hoch, bahnte sich einen direkten Weg durchs Unterholz. Die Eile machte ihn unachtsam: Er trat auf einen losen Stein, verdrehte sich dabei den Fuß und geriet ins Taumeln. Stolpernd ruderte er mit den Armen und hatte sich schon beinahe wieder gefangen, als er mit dem Schienbein voll gegen eine freiliegende Baumwurzel prallte. Er kippte um, stürzte krachend durch einen Strauch und landete mit der Nase voran im Dreck.
Zwei Schweinsaugen starrten ihn an, ein rosa Rüssel zuckte missvergnügt. Das Schwein warf den Kopf zurück und wandte sich dann mit vorwurfsvollem Grunzen wieder der Nahrungssuche zu.
Der Schweinehirt auf der anderen Seite der Lichtung erhob sich. «Haben Sie etwas vergessen?»
Grant rappelte sich auf und klopfte sich den Schmutz von der Kleidung. Sein halbes Gesicht war mit Erde überkrustet, und er hatte sich die Hand an einem Stein aufgeschlagen. «Die Tafel – mit der Aufschrift und der Malerei. Sie haben nur ein Stück davon gefunden?»
«Ein Stück, ja.»
«Und das war das Stück, das Ihr Cousin gestohlen hat.»
«Ja.»
Grant atmete tief durch, wobei er auf der Zunge den Geschmack von trockener Erde wahrnahm. «Sagen Sie: War die Tafel zerbrochen, als Sie sie fanden? Oder war sie komplett? Unversehrt, meine ich?»
Der Grieche schien die Frage nicht recht zu verstehen. «Ein Stück. Wir haben nur ein Stück gefunden.»
«Ja. Aber …» Grant knöpfte seine Hemdtasche auf, zog Pembertons Foto heraus und drückte es dem überrumpelt wirkenden Griechen in die Hand «Haben Sie das hier gefunden?»
Der Schweinehirt starrte das Foto an. Wegen der Doppelbelichtung war das Bild verschwommen und undeutlich, aber der Umriss der Tafel war gut zu erkennen.
«Nun?»
Der Grieche schüttelte den Kopf. «Wir haben ein Stück gefunden. Das ist nur eine Hälfte.»
Reed schob abermals seine Brille hoch. «Wie Sie wissen, schöpften Ilias und Odyssee aus einem überlieferten Zyklus von Geschichten aus dem Trojanischen Krieg. In diesen ging es um bestimmte Episoden – den Zorn des Achill, die Heimkehr des Odysseus. Nachdem aber Homer so viel Anklang gefunden hatte, versuchten sich auch andere Möchtegerndichter am Trojanischen Krieg. Genauer gesagt, sie wollten die Lücken zwischen Homers Epen füllen, damit am Ende die gesamte Erzählung von Troja – von der Entführung Helenas bis zur schließlichen Heimkehr der griechischen Sieger – in epische Dichtung gefasst wäre. Natürlich dürfte dabei nur minderes Geschreibsel herausgekommen sein, weshalb diese Texte vermutlich auch nicht erhalten blieben. Dass Hamlet durch fünf weitere Dramen über die Geschichte Dänemarks im Mittelalter verbessert worden wäre, glaubt schließlich auch kein Mensch.»
Er schaute Muir an. «Die Aethiopis ist die lange verschollene Fortsetzung der Ilias , die Sie sich gewünscht haben. In ihr wird der letzte Kampf und Tod des Achill beschrieben. Und …» Er fuhr mit dem Finger an den dichtgedrängten Zeilen Griechisch entlang, bewegte beim Lesen lautlos die Lippen mit. «Was dann als Nächstes geschieht. ‹Sie legen die Leiche des Achilleus aufs Totenlager. Seine Mutter, die Meeresnymphe Thetis, kommt mit den Musen herbei und wehklagt um ihren Sohn. Dann entführt sie ihn vom Scheiterhaufen und trägt seinen Körper zur Weißen Insel.›»
Sein über der Seite schwebender Finger schien zu zittern, doch sein Gesicht leuchtete vor freudigem
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