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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Erstaunen. «Aber selbstverständlich. Die Weiße Insel .»

SECHZEHN
    Paleo Faliro, Athen
    Sie waren alle wieder zurück im Hotel und verzehrten ein Essen, das verdächtig nach Überresten vom Vorabend aussah. Zwar füllten an diesem Abend mehr Gäste den Raum, aber dennoch klafften zwischen den besetzten Tischen so weite Abstände, dass sie einer weit auseinandergezogenen Inselgruppe im leeren Meer des Speisesaals glichen.
    «Die Weiße Insel», erläuterte Reed, «war eine Art griechisches Walhalla, ein Ort, an dem Helden nach ihrem Tod ein unbeschwertes Wohlleben führten.»
    «Ich dachte, das wären die elysischen Gefilde», warf Grant ein, stolz, auch einmal mit klassischem Wissen glänzen zu können, wenngleich er diesen Begriff nur von einer jungen Französin auf den Champs-Élysées aufgeschnappt hatte, kurz nach der Befreiung von Paris. Gespannt wartete er darauf, dass Reed seinen Beitrag würdigte.
    Der Professor aber wirkte nur verärgert. «Ja, schon richtig.» Er rammte seine Gabel so fest in ein Stück Fleisch, dass die Zinken über den Teller klirrten. «Vom Leben nach dem Tod hatten die Griechen, offen gesagt, eine etwas ungenaue Vorstellung. Die uns überlieferte, populäre Version – Hades für die Qualen der Verdammten, Elysium, oder die elysischen Gefilde, für ewiges Glück – stellt eine relativ späte Verfeinerung des Grundschemas dar. Und die hat vermutlich auch viel mit unserem Wunsch zu tun, unsere eigenen Vorstellungen von Himmel und Hölle auf frühere Zeiten zu übertragen. Bei Homer, speziell in der Ilias , ist jedenfalls von einem Leben nach dem Tod nicht die Rede. Unsterblichkeit erlangt man durch die zu Lebzeiten vollbrachten Taten und den Ruhm, den man sich dadurch erworben hat. Wenn man stirbt, lebt nur ein Schatten fort, ein graues Abbild des Menschen, der man einmal war.»
    «Und wie passt da jetzt die Weiße Insel hinein?», fragte Muir.
    Reed runzelte die Stirn. «Dabei handelt es sich, kosmologisch gesehen, eigentlich um eine Anomalie. Es gibt eine Reihe ähnlicher Vorstellungen: die Inseln der Seligen, die Pindar beschrieben hat, eine Art elysisches Gefilde in Inselform. Auch der Garten der Hesperiden, in dem die goldenen Äpfel des Lebens wuchsen, soll sich alten Vorstellungen nach auf einer Insel am Rande der Welt befunden haben, obwohl das nicht ganz dasselbe ist. Geographisch gesehen aber wurde immer vermutet, dass die Weiße Insel sich irgendwo im Schwarzen Meer befand.»
    «Warum dort?»
    «Für die Griechen war die Erde eine flache Scheibe, um die herum ein großer, kosmischer Fluss strömte – der Okeanos. Das Mittelmeer bildete die Achse quer durch die Mitte. Durchquerte man die Meerenge von Gibraltar, gelangte man in den westlichen Okeanos; durchsegelte man den Bosporus ins Schwarze Meer, gelangte man in den östlichen Teil.» Er beugte sich vor. «Das Schwarze Meer lag für die Griechen jenseits der Grenzen ihrer Welt. Es war der äußerste Rand, ein Niemandsland, wo das Reich der Menschen und das Reich der Götter ineinander übergingen. Alles, was man in der bekannten Welt nicht zu verorten vermochte, wähnte man naturgemäß dort. Besonders, falls es mythische oder spirituelle Dimensionen hatte.» Beim Blick auf Marinas Gesicht zogen sich seine buschigen Augenbrauen zusammen. «Sie sind anderer Auffassung?»
    «Das Schwarze Meer.» Sie blickte in die Runde, als sei sie verblüfft darüber, dass die anderen ihr nicht zu folgen vermochten. «Sehen Sie denn nicht die Verbindung? Vielleicht haben die Griechen die Weiße Insel dort ja nicht nur aus geographischer Verlegenheit vermutet. So viele der Irrfahrten des Odysseus scheinen durchs Schwarze Meer zu führen, dabei hat er gar keinen Grund, dort zu sein. Es liegt nicht auf seinem Heimweg.»
    «Wahrscheinlich ist das eine spätere Geschichte, die in den Mythos eingefügt worden ist.»
    «Aber was, wenn dem nicht so ist? Was, wenn die Weiße Insel ein wirklicher Ort ist, ein verlorenes Heiligtum oder ein Tempel für tote Helden? Odysseus muss einen Grund gehabt haben, nach Osten zu segeln, obwohl seine Heimat, in die er so dringend zurückkehren wollte, sich im Westen befand. Möglicherweise wollte er ja die Rüstung des Achill in diesen Tempel auf der Weißen Insel bringen.»
    Jackson stellte sein Bierglas ab und starrte sie an. «Entschuldigung – wollen Sie damit sagen, Odysseus war ein Mensch aus Fleisch und Blut?»
    «Natürlich war er das nicht», sagte Muir. «Mythen und Legenden nachzujagen wird uns

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