Der vergessene Tempel
laufendem Motor.
«So, steigen wir ein.»
Der Wagen war ein Mercedes, besetzt lediglich mit einem Fahrer, der sie wortlos aufforderte, im opulenten Innenraum Platz zu nehmen, und dann die Tür hinter ihnen zuwarf. Als Grant sich auf der Bank zurücklehnte, fühlte er einen Knubbel an der Schulter. Er wandte sich um. Es war ein kleines Loch im Lederbezug, etwa von der Größe einer Kugel Kaliber .38, das wenig sachkundig zugenäht worden war. Grant tastete mit dem Finger darüber. «Sieht aus, als hätte hier schon mal jemand wenig Freude an der Fahrt gehabt.»
Der Wagen trug sie die leere Küstenstraße hinauf. Grant hätte vermutet, dass die Fahrt nach Athen hinein gehen würde, aber der Fahrer folgte stur der Straße, ohne irgendwo abzubiegen. Nach und nach tauchten in der Nacht vor ihnen Lichter auf, sehr weit oben. Erst dachte Grant, es müsse sich um Dörfer an einem Berghang handeln; dann merkte er, dass die Nacht ihm einen Streich gespielt hatte. Sie waren in Piräus angekommen, dem Hafen von Athen, und die an Perlenketten im Himmel erinnernden Lichter gaben die Umrisse von Kränen und gewaltigen Schiffsrümpfen wieder. Grant schaute aus dem Fenster, starrte durch die verriegelten Tore und Stacheldrahtzäune, während sie vorbeifuhren. Es hatte etwas von einer Tour durch ein Museum, mit den Schiffen als Ausstellungsstücken, die grell von Scheinwerfern angestrahlt wurden. Manche lagen still und gespensterhaft da; auf anderen wimmelte es vor Leben, von Hafenarbeitern und Matrosen, die geschäftig wie Ameisen mit dem Löschen der Ladung beschäftigt waren. Vor dem Rumpf eines Frachters hing schlaff ein großes Banner, von Hand in Griechisch und Englisch beschriftet: Lebensmittelhilfe der USA für das patriotische Volk Griechenlands .
Sie bogen von der Hauptstraße ab und fuhren rasant durch eine Folge von Seitenstraßen und Gassen, die immer schmaler wurden, bis der Wagen schließlich anhielt. Grant mutmaßte, dass der Mercedes vielleicht falsch abgebogen war und nicht weiterfahren konnte, doch da war der Fahrer auch schon ausgestiegen und hielt ihnen die Tür auf. Grant hatte gerade noch Zeit, zugenagelte Fenster und an die Mauern gepinselte politische Parolen mit dem Blick zu streifen; dann wurde er auch schon eine feuchtkühle Treppe hinabgeleitet. Die Eingangstür wurde durch ein Metallgitter geschützt – offenbar nicht ohne Grund, den Dellen und Kratzern im Holz nach zu urteilen. Auf einem verwitterten Schild darüber war eine schwarz verhüllte Gestalt zu sehen, die in einer Art Kahn stand. Daneben stand in flackernder Neonschrift das Wort «Xαϱον».
«Charon», übersetzte Marina, obwohl Grant selbst Griechisch lesen konnte. «Der Fährmann in die Unterwelt.»
Eine Welt aus Qualm und Musik prallte Grant entgegen, als er die Tür öffnete. Der Rauch war zum Schneiden dick, eine massive Wolke, die ihnen schwer in die Lunge drang. In dem Rauch war keinerlei Bewegung zu erkennen, wie Nebel hing er unter den Lichtkegeln der niedrig hängenden Lampen. Neben dem beißenden Tabakaroma drang Grant auch der süßliche Duft von Haschisch in die Nase, und als er sich umsah, bemerkte er an fast jedem Tisch im Raum bauchige Wasserpfeifen. Die Gäste, die sich um sie herum drängten, schienen sämtlichen Schichten der griechischen Gesellschaft zu entstammen: feine Damen mit Nerzstolen und Perlenketten, daneben dick mit Rouge geschminkte Mädchen mit billigem Strassschmuck; Männer in Abendgarderobe, in Overalls, in aufgeknöpften Uniformen, in Hemdsärmeln und abgewetzten Westen, sie alle saßen einträchtig um die nargiles herum und ließen den Schlauch der Wasserpfeife von Mund zu Mund wandern. Keiner der Anwesenden schenkte Grant und Marina größere Beachtung.
Auf einer niedrigen Bühne im vorderen Teil des Raumes saß eine fünfköpfige Musikgruppe über ihre Instrumente gebeugt da: ein Geiger, ein Lautenspieler, ein Mann, der eine Trommel unter den Arm geklemmt hatte, und einer, der ein zitherähnliches Instrument auf den Knien hielt wie ein Zigarettentablett. Der Einzige, der das Publikum überhaupt wahrzunehmen schien, war der Sänger, ein schmächtiges Männlein in einem aufgeknöpften schwarzen Hemd, das mit tiefliegenden, tuberkulösen Augen das Mikrophon anstarrte. Den Text konnte Grant nicht verstehen, aber das Lied war sehr melodiös und unglaublich traurig.
Ein Kellner tauchte neben ihnen auf und führte sie in den hinteren Teil des Raums, wo sich an der Wand eine Reihe runder Sitznischen
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