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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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nicht weiterbringen.» Er wandte sich an Reed. «Wie weit sind Sie mit der Übersetzung der Tafel gekommen, bevor unsere griechische Sirene anfing, Sie auf Abwege zu locken?»
    «Ich habe eine ungefähre Vorstellung von den Zeichen.» Reed faltete ein Blatt Papier auseinander. Es war fast vollständig mit einem großen Netz geheimnisvoller Symbole bedeckt, etwa hundert insgesamt. Manche waren durch Pfeile verbunden; neben andere waren an den Rand Fragezeichen und Anmerkungen notiert. «Einige sind recht mehrdeutig, aber diese tauchen glücklicherweise weniger oft auf.» Er sah Grant an. «Haben Sie Pembertons Foto noch?»
    Grant zog es heraus und reichte es über den Tisch. «Die Zeichen sind darauf nicht zu erkennen. Es ist zu verschwommen.»
    «M-hm», brummte Reed, der gar nicht richtig zuhörte.
    Muir steckte sich eine Zigarette an. «Also – das Alphabet haben Sie so weit. Wie geht’s weiter?»
    «Hm?» Reed blickte nicht hoch. «Um ein Alphabet muss es sich nicht unbedingt handeln. Grob gesagt gibt es drei Methoden, Sprache auf Papier wiederzugeben. Die alphabetische ist die genaueste. Jeder Buchstabe steht für einen Laut der Sprache. Damit kann so ungefähr alles ausbuchstabiert werden, was man sprachlich ausdrücken möchte. Ungeheuer leistungsfähig und flexibel – historisch gesehen aber eine relativ junge Erfindung.»
    «Wie jung?»
    «Ein bisschen über zweieinhalbtausend Jahre, in ihrer endgültigen Form, entwickelt hier in Griechenland. Das altgriechische Alphabet war das erste komplett phonetische Alphabet der Welt. Ohne Frage war es der Schlüssel zu der außerordentlichen kulturellen Blüte, die sich dann in den folgenden vier Jahrhunderten entfaltete. Vorherige Schriftformen waren grobe, unbeholfene Systeme. Wörter waren passive Gefäße, die zum nüchternen Dokumentieren taugten, aber zu wenig anderem. Das griechische Alphabet ging als erstes darüber hinaus und ermöglichte es, die eigenen Gedanken ganz präzise in geschriebenen Worten festzuhalten. So war das Schreiben nicht länger rückwärtsgerichtet und statisch, sondern wurde zu einem wunderbaren Werkzeug zur Erweiterung des Geistes.
    Aber all das kam erst später. Davor gab es zwei Arten von Symbologien: Bilderschriften und Silbenschriften. Bei Bilderschriften wie den ägyptischen Hieroglyphen oder der modernen chinesischen Schrift steht jedes Ideogramm, jedes Zeichen also, für ein Wort oder einen Begriff. Es ist eine rein graphische Schrift; zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort besteht kein lautlicher Zusammenhang. In einem auf Silben beruhenden Zeichensystem dagegen wird die Sprache in jede nur mögliche Kombination von Konsonant und Vokal zerlegt, die dann durch ein Symbol dargestellt wird. Im Englischen hätte man demnach also jeweils ein Zeichen für ‹ba›, ‹be›, ‹bi›, ‹bo› und ‹bu›, dann für ‹ca›, ‹ce›, ‹ci› und so weiter bis hin zu ‹zu›. Genau dieses System wird im modernen japanischen Hiragana-Alphabet benutzt.» Warum er mit Japanisch so vertraut war, erklärte er nicht – es gab auf der Welt nur ein paar Dutzend Menschen, die befugt waren, diesen Teil der jüngeren Weltgeschichte zu kennen, und nur einer davon saß mit am Tisch.
    Grant rechnete es im Kopf rasch aus, fünf Vokale multipliziert mit einundzwanzig Konsonanten. «Das ergäbe am Ende einhundertfünf Zeichen.»
    Reed strahlte. «Im Englischen, ja. Was zufällig der Anzahl von Zeichen in Linear B recht nahe kommt, die ich auf der Tafel identifiziert habe. Dreiundneunzig, genau genommen. Zu wenige, um Ideogramme zu sein – obwohl ich vermute, dass es davon einige für besonders gebräuchliche Wörter gibt. Doch es sind zu viele, um rein alphabetisch zu sein.»
    «Na prächtig», stellte Muir düster fest. «Wenn das so weitergeht, dürften wir ja in drei Jahren einer Lösung näherkommen.»
    «Wobei uns das ohne den Rest dieser gottverdammten Tafel auch nicht wesentlich weiterbringen dürfte.» Jackson schien untypisch gedrückter Stimmung, während er an seinem Hähnchen herumsäbelte. «Wenn dieser dämliche Grieche das Ding gestohlen hat, wer weiß, was dann aus der anderen Hälfte geworden ist?»
    «Tatsächlich», sagte Reed, «habe ich da, glaube ich, eine Vermutung.»
    Er blickte in die Runde, offenkundig erfreut über die ungläubige Reaktion, die er mit seiner Äußerung erntete.
    «Und woher? Sind Sie Sherlock Holmes oder was?», sagte Jackson.
    «Ich habe mich eigentlich immer eher in Mycroft wiedererkannt.»

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