Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Schweigen.
Stunde um Stunde verrann. Niemand betrat den Turm, um sie zu holen. Oder um frisches Wasser zu bringen. Banavred bot ihnen von dem restlichen schalen Wasser in seinem Eimer an, doch noch konnten sie es aushalten, darauf zu verzichten. Der Mittag kam (nahmen sie an) und ging vorüber. Mellow stand irgendwann auf. Er betastete den Mantel, nahm dann, als er nichts in irgendwelchen verborgenen Taschen fand, den dünnen Strick zur Hand, den Banavred entknotet hatte, rollte ihn zusammen und steckte ihn ein. »Man kann nie wissen«, meinte er nur.
»Eines aber weiß ich«, fuhr er fort, als er wieder neben den beiden anderen saß. »Solange sie uns in diesem Loch stecken haben, sind wir ihnen ausgeliefert. Wir können ohne ihre Hilfe nicht hinaus, so viel ist mal sicher. Und dann sind da noch Saisárasars eigenartige Fragen. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, ich komme immer nur auf eins hinaus: Sie planen einen Angriff auf das Hüggelland!«
»Einen Angriff? Warum sollte jemand uns angreifen?«, fragte Finn fassungslos.
»Nicht uns, Finn, nicht die Vahits – das Hüggelland selbst ist das Ziel.«
»Aber wieso? Wir haben niemandem etwas getan.«
Mellow nickte düster. »Genau deshalb bin ich davon überzeugt, dass sie es nicht auf uns, sondern auf unsere Hügel und Täler abgesehen haben. Wir Vahits sind dabei nur lästige Läuse im Pelz, mehr nicht. Wie viele dieser Gidrogs hat er bei sich?«
Banavred musste ein wenig nachdenken. »Sie sind nicht immer alle zugleich da. Ich habe fünf, vielleicht auch sechs gesehen. Aber er scheint die Hälfte von ihnen stets fortzuschicken, derweil die anderen sich ausruhen.«
»Das ist zu wenig für einen Angriff«, warf Finn ein. »Selbst für einen Überfall auf das Hüggelland mitten in der Nacht brauchen sie mehr.«
»Das stimmt«, erwiderte Mellow. »Doch ich meinte nicht diese sechs – oder sieben, mit ihm . Ich meinte, sie planen einen richtigen Angriff. Der später erfolgen wird. Noch sammeln sie Hinweise und alles für sie Nützliche. Das hier sind Späher, Finn; Kundschafter, die am Rande des Hüggellandes auf der Lauer liegen. Und sie horchen die aus, die sie zu fassen kriegen.«
Banavred nickte düster. Er hockte da, die Knie angezogen, die Finger ineinander verschränkt. Seine Knöchel traten weiß hervor.
»Was könnten wir ihnen denn schon groß sagen?«, ereiferte sich Finn. »Wann die Kürbisse reif sind?«
»Da ist einiges dran an dem, was dein Freund hier vorbringt«, murmelte Banavred. »Eines steht jedenfalls fest: Du verstehst es, um die Ecke zu denken, Herr Mellow. Was du vermutest, ergibt einen Sinn. Wenn sie es wirklich auf das Hüggelland abgesehen haben, würde ich an Saisárasars Stelle auch wissen wollen, wo unsere Streitmacht steht und wo die Dörfer liegen und was nicht alles noch. Allerdings raubt mir dein Bild die allerletzte Hoffnung auf Rettung, sozusagen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Finn.
»Es ist leicht auszurechnen«, antwortete der alte Vahit niedergeschlagen. »Wen immer sie zu fassen kriegen, weiß, dass sie hier sind. Und sie werden niemanden laufen lassen, der sie verratenkönnte. Weil das ihren Plan gefährdet. Folglich bleibt ihnen nichts weiter übrig – sie müssen …«
»… sie müssen uns alle töten!«, ergänzte Mellow. »Sie haben gar keine Wahl. Und das bringt mich auf den Punkt des Ganzen. Wir haben auch keine Wahl. Beim nächsten Mal, wenn sie uns oder auch nur einen von uns holen, müssen wir alle zu fliehen versuchen. Und wenn es nur einer schafft: Wir müssen das Hüggelland warnen! Niemand weiß, ob wir je wieder eine Gelegenheit dazu erhalten! Sterben lassen sie uns auf jeden Fall, ob wir es wagen oder nicht. Sei es durch ein Schwert oder dadurch, dass sie beschließen, einfach fortzugehen, während wir hier unten verdursten. Beim nächsten Mal müssen wir es versuchen!«
Diese Worte musste Finn erst einmal verdauen. Für eine Weile breitete sich Schweigen aus; eine Stille, in die nur das Geräusch raschelnder Kleidung drang, wenn einer von ihnen sich bewegte. Ihre unwirkliche Lage und die Tatsache, dass sie nicht nur ein Albtraum war, drang erst nach und nach in sein Bewusstsein. In einem Moment empfand er Angst, im nächsten Wut, im darauf folgenden glühenden Zorn. Wie konnten diese Gidrogs es wagen! In seinem Kopf ging es drunter und drüber. Er begann, ohne es richtig zu bemerken, verwegene Fluchtpläne zu schmieden, die er gleich darauf wieder als undurchführbar
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