Der Vergessene
fiel dem anderen entgegen. Er schaute in den offenen Mund, und einen Moment später pressten sich Kamuels Lippen auf die seinen…
Er küsst mich! Er küsst mich tatsächlich - so schrillte es durch Sam Elams Kopf. Es war ihm nicht möglich, sich zu befreien, weil er festgehalten wurde. Der Fremde war zu stark. Seine Kräfte kamen Sam übermenschlich vor, und so musste er einfach im Griff des anderen bleiben. Er war wie eine Klammer, aber die zweite Klammer spürte Sam genau auf seinem Mund.
Da drückten sich die Lippen des anderen fest, so dass er sie schmecken konnte. Er nahm das Brennen wahr. Keinen salzigen Geschmack, eher einen metallischen. Kamuel schmeckte nach allem möglichen, nur nicht nach Mensch. In Elams Kopf entstanden Bilder. Er sah in eine andere Welt, in der es Licht und Schatten gab. Er sah Blut, er sah Tote, aber auch mächtige Personen mit Flügeln vor großen, sich drehenden Feuerrädern stehen. Er spürte die andere Luft, die ihn streichelte, und merkte, dass sie den gleichen Geschmack mitbrachte wie die Lippen des Kamuel.
Alles war anders geworden. Er nahm die Gedanken des anderen als eine Sprache hin. Kamuel wollte mit ihm reden. Über den Tod, über die Vernichtung, über den Verrat, den die Engel untereinander übten, und er zählte Elam zu den Verrätern.
Noch immer klebte sein Mund auf den Lippen fest. Aber der metallische Geschmack veränderte sich. Er war weiter gewandert, etwas anderes trat hervor, und es drang tief aus dem Rachen. Feuer!
Sam hatte es gesehen. Er wusste Bescheid. Er wollte auch schreien, was ihm nicht mehr gelang, weil der Druck der Lippen einfach zu mächtig war. Er konnte nicht anders. Unter dem Griff des Kamuel zuckte und zappelte er wie ein Fisch im Netz. Er stieß gegen den Tisch.
Die leere Flasche geriet ins Wanken, bevor sie umkippte und über die Kante hinweg zu Boden fiel.
Kamuel küsste weiter. Er küsste härter, und er brachte jetzt das Feuer aus seinem Innern mit.
Die Flammen fanden ihren Weg. Sie drangen in den offenen Mund des anderen hinein. Sie zuckten vor, sie erreichten den Hals, huschten weiter und fanden ihren Weg durch die Kehle hinab, hinein in die Lunge des Mannes. Feuer brannte ihn aus. Die Hitze war unerträglich. Er bekam keine Luft mehr. Er glaubte zu schreien, und die Bilder, die er noch vor kurzem gesehen hatte, wurden ebenfalls von diesem kochendheißen Feuer erfasst und verschwanden.
Die Hitze verkohlte ihn innerlich, und er sank auf seinem Stuhl zusammen. Erst jetzt löste Kamuel seine Lippen vom Mund des anderen. Er ließ ihn noch nicht los, sondern schaute auf die zusammengesunkene Gestalt hinab, wobei er mit einer bedauernden Bewegung des Kopf schüttelte, als täte es ihm leid.
Er sprach auch. Die Worte drangen sehr leise über seine Lippen und waren nur für ihn verständlich. »Du hättest es anders haben können, ganz anders. Aber du hast es nicht gewollt. Es ist schade um dich. Ich hoffe, dass die anderen vernünftiger sind.« Ein letztes Schulterzucken, dann ließ Kamuel den starren Körper los, der sich nicht mehr auf dem Stuhl halten konnte, über die Kante hinwegglitt und zu Boden fiel, wo er liegen blieb.
Erst jetzt stand der Fremde auf. Er ließ sich Zeit dabei. Es war ihm gleichgültig, ob man ihm dabei zuschaute oder nicht. Er strich das Leder seines Mantels glatt, bevor er sich wieder anderen Dingen zuwandte.
Er schaute nach vorn. Es gab die Gäste noch, die Frauen, die Männer, und es gab auch den Wirt. Sie alle hatten zugeschaut, und sie alle waren geschockt von dem, was sie erlebt hatten. Sie sahen Kamuel, und sie sahen die Gestalt des Sam Elam, die neben dem Stuhl lag. Niemand von ihnen wusste, ob er tot war oder nicht, aber er regte sich noch immer nicht.
Kamuel lächelte. Es war ein eisiges Lächeln, das seine Lippen umspielte. Und es war so etwas wie ein Startsignal, denn er setzte sich in Bewegung, um das Lokal zu verlassen…
Charlie, dem Wirt, war der Fremde schon von Beginn an verdächtig vorgekommen, auch wenn die dunkelhaarige Milly anders darüber dachte und in Selbstgesprächen über den tollen Typ verging, der einer Frau sicherlich heiße Stunden bescheren konnte.
Charlie war ein Mann. Er war der Chef hier. Er hielt ein Auge auf seine Gäste, besonders auf die Fremden. Wer ihm nicht passte, den setzte er vor die Tür. Aber der Neue hatte nichts getan, was ihn zu einer derartigen Aktion hätte verleiten können. Er war sogar ruhiger als die meisten gewesen, und auch Sam Elam hatte nichts
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