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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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brauchte er einen Spezialrollstuhl, um den es eine richtige Schlacht mit der Kasse gab – eine Schlacht, die der Mann verlor. Hätten nicht sein Arzt und sein Physiotherapeut sich vorbildlich für ihn eingesetzt, hätte es nicht Spender gegeben (u. a. der örtliche Lionsclub), der Mann wäre heute noch nicht mobil.
    Selbst Neugeborene spüren schon den menschenverachtenden Sparfanatismus der Kassen. Ein Sanitätshaus aus dem Landkreis Neu-Ulm kämpft seit mehr als fünf Wochen (April 2008) mit den Entscheidungsträgern der AOK Bayern um das Bereitstellen eines lebenswichtigen Monitorgeräts für ein Baby in kritischem Zustand. Das Kind kann nur zu Hause betreut werden, wenn sein Puls, seine Atmung, seine Herztöne laufend überwacht werden. Nach fünf Wochen wurde der Vorgang dem medizinischen Dienst der Kasse vorgelegt. Die Entscheidung steht immer noch aus. Der Sanitätshändler hielt diese Ungeheuerlichkeit nicht aus. Er stellte der Familie auf eigenes Risiko das Gerät zur Verfügung. Sollte die Kasse den Antrag ablehnen, bleibt er – die Eltern sind nicht in der Lage, die Summe aufzubringen – auf den Anschaffungskosten sitzen.
    Nicht wenige meiner Zuhörer sind in Selbsthilfeverbänden organisiert. Keiner von ihnen, der nicht eine leidvolle Geschichte über »seine« Krankenkasse zu erzählen hätte. Einige bitten flehentlich um Rat und Hilfe. Andere flüchten sich in Ironie und Zynismus; einige ballen die Fäuste, lassen Dampf ab …
    Mein Eindruck: Hier wächst eine unglaubliche Welle von Volkszorn heran. Ich weiß ihn leider nicht wirklich zu entkräften! Den Kassenmitarbeitern – sofern sie nicht durch ein Callcenter vom Patientenkontakt abgeschnitten sind – müssen doch die Ohren klingeln! Diese Angestellten, die von Kranken abwechselnd beschimpft oder um Erbarmen gebeten werden, müssen ausbaden, was die Chefetagen anrichten. Immer wieder höre ich das eine Wort: »ungerecht«. Einige sagen es klagend, andere stoßen es mit bitterer Gewalt hervor: Ungerecht! Ungerecht! Ungerecht!
    Das Wort trifft den Kern der Sache. Es geht nicht um ein paar kosmetische Korrekturen, damit die in den Rollis und an den Dialysegeräten endlich den Kassen nicht mehr auf den Nerv gehen. Das
Ganze
ist ungerecht. So empfinden die Leute.
In Frankreich zum Beispiel …
     
    In Deutschland wird den Leuten suggeriert, es gebe eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen! Das ist im Kern richtig, muss aber für jede politische Grausamkeit, jede Infamie und jede Dummheit als Begründung herhalten. Wie sieht es denn in anderen Ländern aus? Nehmen wir nur einmal Frankreich. Dort gibt es nur eine einzige Krankenkasse für alle – und diese eine Krankenkasse hat Verwaltungskosten, die etwa einem Drittel unserer ca. 220 Kassen entsprechen. Das ist ja auch logisch. Jede neue Bürokratie, so modern und kostensparend sie auch immer konstruiert sein mag, frisst Geld. Erst recht, wenn diese zusätzlichen Bürokratien einengroßen Teil ihrer Energie darauf verwenden müssen, den Nachbarbürokratien die Kunden abspenstig zu machen. Mit anderen Worten: Sie beschäftigen sich damit, Leistungen zu generieren, die für junge attraktive Beitragszahler verlockend sein könnten, um die Kasse zu wechseln. Sie beschäftigen sich also weniger mit der Durchleitung von Strom als mit dem Aufhalten und Aufbereiten von Strom. Ein Arzt stellt in einem
Thread
fest: »Allein die Kosten der Pseudokonkurrenz und des Risikostrukturausgleichs belaufen sich auf eine zweistellige Milliardensumme, werden aber größtenteils als ›Leistungsausgaben‹ verbucht (!). Hochgradiger Unfug, der mit einer Einzelkasse ebenso entfiele wie der Fonds.«
    Gemeint ist hier der sogenannte Gesundheitsfonds, eine Bürokratie der Bürokratie der Bürokratie, die Union und SPD mit Gewalt noch obendrauf setzen wollen, damit zwischen den Einzelkassen die Risiken ausgeglichen werden, die eben dadurch entstehen, dass Kassen sich die attraktiven Mitglieder gegenseitig abwerben können, was dann zu der Schieflage führt, dass in der einen Kasse nur noch die teuren Risiken (nämlich die Kranken) und in der anderen Kasse nur noch die Renditeobjekte (nämlich die Gesunden) sind.
    Die Franzosen sagen:
Eine
Kasse – und ihr seid alle Sorgen los!
Wo bleibt das Geld der Beitragszahler?
     
    Inzwischen machen sich freilich immer mehr Menschen so ihre Gedanken zum Verbleib der ca. 150 Mrd. Euro Kassenbeiträge, die von den gesetzlich Versicherten jährlich entrichtet werden – und die scheinbar

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