Der verkaufte Tod
Vinja.
»Ja. Morgen früh.« Tawan küßte Vinja auf die Stirn. »Jetzt habe ich eine große Sorge.«
»Hast du Angst?«
»Nein. Man wird mich am Leben lassen.«
»Und wenn sie dir beide Nieren wegnehmen und das Herz und noch andere Dinge, die sie gebrauchen können? Du kannst dich nicht wehren. Sie nehmen alles von dir und werden den Rest verbrennen. Und keiner weiß, wo du geblieben bist.« Ihre Augen waren weit von Entsetzen.
»Ja, das ist möglich.« Auch Tawan ergriff jetzt eine Panik. Was Vinja da sagte, daran hatte er nie gedacht. Natürlich war es einfach, so lächerlich einfach, alles aus ihm herauszunehmen, was man verwerten konnte, und dann den ausgeschlachteten Körper verschwinden zu lassen. Niemand wußte, wo die Klinik war, niemand würde ihn suchen, denn wer sucht schon einen Mann aus den Slums, wo man froh ist, daß wieder einer weniger ist? Und die dreißigtausend Rupien würde Vinja nie bekommen, denn es hatte nie einen Tawan Alipur gegeben. Noch nicht einmal Namen und Adressen konnte er aufschreiben, damit Vinja zu Chandra Kashi und der Klinik gehen konnte, denn er hatte ja nicht schreiben gelernt.
Zu Chandra Kashi zu laufen war jetzt zu spät. Aber morgen früh würde er mit dem Arzt sprechen, der ihm die Niere herausnahm. »Doktor«, würde er sagen, »mir ist da eine Idee gekommen. Wenn ich nicht mehr zu meiner Nichte Vinja zurückkehre, wenn ich sterben sollte, wenn man mich einfach verschwinden läßt – ich habe vier Freunden gesagt, wohin ich gegangen bin. Sie werden die Polizei alarmieren. Ich kann nicht einfach verschollen sein. Also passen Sie auf, Doktor, daß mir nichts passiert.« Ja, das würde er sagen, das war eine Garantie weiterzuleben, das konnte ihn davor bewahren, ein heimliches Ersatzteillager für andere Kranke zu werden. »Das war eine gute Idee von dir, Vinja«, sagte er. »Sie werden mir nur die verkaufte Niere herausnehmen. Meine Sorge ist eine andere. Ich werde vielleicht eine Woche nicht da sein, und was wird in der Zeit aus dir?«
»Ich gehe zu den Hütten am Fluß. Wir haben dort doch Freunde.«
Tawan schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, Vinja.«
»Warum nicht?«
»Wenn du hier unseren schönen Platz, unser Dach verläßt, nimmt es sich sofort ein anderer. Wenn ich dann zurückkomme, kann ich ihn nur vertreiben, indem ich ihn umbringe. Freiwillig wird er es nicht hergeben.«
»Aber wir brauchen doch unseren Platz nicht mehr.« Vinja sah Tawan erstaunt an. »Du hast doch gesagt, wenn du die Niere verkauft hast, sind wir reich. Wir wohnen in einem richtigen Haus.«
»Aber bis dahin wird einige Zeit vergehen. Ein freies Zimmer in Kalkutta muß man suchen wie ein Goldkorn im Hugli-Fluß.«
»Dann bleibe ich hier, Onkel Tawan.«
»Allein? Wie soll das gehen?«
»Ich kann für mich kochen. Ich bin doch kein kleines Kind mehr, Onkel.«
»Und wer soll kaufen, was du brauchst?«
»Ich! Ich habe doch einen starken Stock, auf den ich mich stützen kann.«
»Du kannst nicht den weiten Weg bis zum Markt laufen, Vinja.«
»Ich kann es. Ich werde es dir beweisen. Auch ein Fuß ohne Zehen bleibt ein Fuß, mit dem man gehen kann.«
»Du bist bisher nie eine lange Strecke gegangen.«
»Ich werde es üben.«
Tawan fuhr mit den Händen zum Kopf und raufte sich die Haare. Da ist wieder etwas, was ich falsch gemacht habe, dachte er verbittert. Über all die Jahre hinweg, die Vinja bei mir ist, habe ich alles für sie getan, nur gegangen sind wir nicht. Sie hat immer nur unter dem Dach oder auf der Straße gesessen und hat gebettelt, nie ist sie weiter als ein paar Meter gelaufen, und ich habe geglaubt, an ihr Gutes zu tun. O Gott, wie falsch war das! Sie ist doch bis auf den einen Fuß ein gesunder Mensch, aber ich habe sie behandelt wie einen hilflosen Krüppel. Tawan, du hast dieses Mädchen zu einer wunderschönen Puppe gemacht, die man herumtragen muß. »Wenn ich weg bin«, sagte er, um mit anderen Gedanken sein Schuldgefühl zu verdrängen, »werden dich die geilen Männer ansprechen. Vor allem die weißen.«
»Ich werde nicht hinhören, Onkel Tawan.«
»Sie werden dir Dollarscheine in den Schoß werfen.«
»Ich werde sie zurückwerfen in den Wind.«
»Und wenn sie dich einfach hochreißen und mitschleppen?«
»Ich kann schreien wie ein Geier.« Sie lächelte ihn an und schüttelte dabei den Kopf. »Du kannst dich auf mich verlassen, Onkel Tawan. Mich greift keiner an.«
In dieser Nacht konnte Tawan nicht schlafen. Er lag wach, den Arm um die sich an
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