Der verkaufte Tod
Mensch. Sie wissen nicht, wie wertvoll das ist.«
Und ob ich das weiß! Dr. Kasba ging an das Fenster und blickte in den Park. Als kleiner Junge habe ich am Hafen gewartet, bis die Trawler vom Meer zurückkamen in die Stadt und ihren Fang für den Fischmarkt am Morgen an Land brachten. Jedesmal ist es mir gelungen, ein paar Fische zu stehlen. Einmal, an einem Freitag – ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen –, fiel aus einer großen Kiste auf einem Lastwagen ein ganzer, schöner, glänzender Delphin, schon aufgeschlitzt und ausgenommen. Er lag neben dem Auto auf dem Boden, keiner sah ihn, an Kranhaken schwebten neue Fischleiber an Land, und der Delphin lag unter den Hinterrädern, für alle unsichtbar. Da habe ich ihn vorsichtig hervorgezerrt. Er war ein schwerer Brocken, ich wußte, daß ich ihn nie tragen konnte, ich war ja nur ein kleiner, schmächtiger Junge, aber ich schleifte ihn über die Straße, weg vom Kran, hinter einen Schuppen, und dort versuchte ich den glatten, glitschigen Leib auf meine Schulter zu heben. Es ging nicht. Da stemmte ich ihn auf eine alte Benzintonne, bückte mich und schob mich darunter. Mit zitternden Beinen richtete ich mich auf, umklammerte den großen Fisch und schwankte davon. Es war, als trüge ich ganz allein einen dicken Baumstamm davon, ich, ein kleiner Junge, aber Schritt für Schritt kam ich vorwärts. Ich sagte nach jedem Meter zu mir: Sudra, du mußt den Fisch zu deiner Mutter bringen, du mußt. Er reicht für eine ganze Woche Leben, wir werden alle satt und glücklich sein. Sudra, halte durch! Sudra, der Fisch will dich erdrücken, will dich besiegen, zeig ihm, daß du stärker bist als er! Zeig es ihm! Zwei Stunden lang habe ich mir das zugeschrien.
So erreichte ich unsere Straße in den Slums. Aber hier ging der Kampf erst richtig los. Von allen Seiten stürzten sie heran und wollten mir meinen Delphin wegnehmen. Ich war ja nur ein kleiner, wehrloser Junge, aber ich verteidigte meinen Fisch. Ich ließ ihn fallen, schrie um Hilfe, stach mit meinem Messer um mich, bekam einen Stich in den linken Oberarm, es blutete stark, was mich noch wilder machte, und dabei schrie und schrie ich. Es muß wie eine Sirene geklungen haben. Auch meine Mutter rannte herbei, hatte eine Eisenstange bei sich und schlug damit um sich, und während sie die Stange kreisen ließ, schleppte ich den Delphin zu unserer Hütte, und hier endlich war er sicher.
Stolz aß ich am Mittag mein erstes gebratenes Fisch-Steak. Ich hatte mich durchgesetzt, ich hatte gesiegt, ich hatte einen Riesenfisch, den ich nicht tragen konnte, dennoch nach Hause gebracht. Ich war ein Mann geworden! Von diesem Tag an wurde ich in den Slums anerkannt. Welch ein Gefühl war das!
Tawan, wenn dich einer versteht, bin ich es.
Tawan unterbrach das lange Schweigen. »Doktor?« fragte er.
Dr. Kasba wurde aus seinen Gedanken gerissen und drehte sich um. »Ja?«
»Darf ich etwas fragen?«
»Frage nie, ob du fragen darfst. Frage einfach.«
»Wie geht es dem Mann, der meine Niere bekommen hat?«
»Auch gut. Er wird morgen entlassen.«
»Jetzt erst?«
»Er ist nicht so robust wie du und schon dreiundsechzig Jahre alt.« Dr. Kasba warf einen Blick aus dem Fenster und winkte Tawan zu sich. »Du hast Glück. Er geht gerade im Park spazieren. Sieh ihn dir an.«
Tawan lief ans Fenster.
Unten, den Rücken ihm zugekehrt, ging ein dicklicher Mann mit eisgrauen Haaren spazieren. Neben ihm trippelte Schwester Myriam und lachte ab und zu laut, bog sich in den Hüften und schlug einmal sogar dem Mann auf den Unterarm. Er mußte sehr eindeutige Witze erzählen, wenn Schwester Myriam sich so benahm.
Tawan starrte auf den Mann und schluckte mehrmals, als säße etwas in seiner Kehle fest. »Meine Niere«, sagte er leise. »Da geht meine Niere spazieren. Ohne meine Niere wäre er jetzt tot.«
»Ja.«
»Ein fröhlicher Mensch. Wie sie lachen …« Tawan krallte die Finger um das Fensterbrett. »Kann ich seinen Namen wissen?«
»Nein. Strengstes Gesetz der Klinik. Du weißt es doch.«
»Machen Sie eine Ausnahme, Doktor.«
»Nein. Auch bei dir nicht.«
»Wo kommt er her?«
»Aus Amerika. Das ist das Äußerste, was ich dir sagen kann. Und das ist schon zu viel.« Dr. Kasba zerrte Tawan vom Fenster weg. »Du siehst, du hast mit deiner Niere ein gutes Werk getan.«
Unten am Springbrunnen sagte Edward Burten zur gleichen Zeit: »Morgen abend bin ich in der Luft, Richtung New York. Und übermorgen liege ich mit Lora im Bett.
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