Der verletzte Mensch (German Edition)
wie sie sich das gewünscht hatten. Sie widmeten sich aber mit großem Engagement der unerwarteten Lebensaufgabe und erkannten sogar eine ungeheure Freiheit darin, plötzlich außerhalb ihrer ursprünglich geplanten Lebensentwürfe zu leben. Sie hatten die hohe Kunst gelernt, gleichzeitig Verlust und Wachstum erleben zu können.
Was wir von 201 Kindern auf der Hawaii-Insel Kauai lernen können
Sind Menschen, die von ihren Eltern mit wenig Wärme, ständiger Abweisung oder gar Gewalt erzogen wurden, zwangsläufig dazu verurteilt, das erfahrene Leid an ihre eigenen Kinder weiterzugeben? Müssen alle, die eine schwierige Kindheit hatten, später im Leben an den Herausforderungen in Beruf und Privatleben scheitern?
Die amerikanische Forscherin Emmy Werner untersuchte mit einem Team von Kinderärzten und Psychologen 40 Jahre lang die Lebenswege von Kindern, die im Jahr 1955 auf der Hawaii-Insel Kauai geboren wurden. 201 der 698 beobachteten Kinder wurden in chronische Armut hineingeboren und sie waren einer Vielzahl der damit verbundenen Risikofaktoren wie Alkoholismus und Gewalt in ihrem Elternhaus ausgesetzt. Zwei Drittel dieser Kinder entwickelten schwere Lern- oder Verhaltensprobleme, wurden später straffällig und hatten psychische Probleme. Weltweites Aufsehen erregte die Studie aber durch die Tatsache, dass ein Drittel der Kinder trotz der erheblichen Risiken, denen sie ausgesetzt waren, zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen wurde. Emmy Werner ist emeritierte Professorin an der University of California und gilt als die „Mutter der Resilienzforschung“. Resilienz ist ein Begriff aus der Baukunde und beschreibt die Biegsamkeit von Material. Resiliente Menschen lassen sich biegen, aber nicht brechen, sie gedeihen trotz widriger Umstände – wie Schilf in einem Sturm.
Die genauen Ergebnisse dieser Studien werden im Kapitel „Die Fakten der Wissenschaft“ ausführlicher dargestellt. So viel sei schon jetzt verraten: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.
Ich habe Emmy Werner ersucht, mir jene drei Werte zu nennen, die aus ihrer Sicht die wichtigsten sind, um die nächste Generation auf die Verletzungen des Lebens vorzubereiten. Hier ihre spontane Antwort:
1. Mitgefühl
2. Gerechtigkeitssinn
3. Zivilcourage
Menschen, die in einer schweren Krise einen neuen Lebenssinn finden, sind nicht immer die widerstandsfähigsten, sondern verfügen oft sogar nur über eine durchschnittliche psychische Stabilität. Entscheidend ist vielmehr ihre Fähigkeit, das verstörende Ereignis in ihre Lebensgeschichte integrieren zu können. Das ermöglicht ihnen, neue Lebenskonzepte für sich zu entwerfen, anstatt immer wieder in das Leiden zurückzufallen.
„Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“
Albert Camus
Tatort Schule
Wo mit Gleichgültigkeit und Kälte Kinderseelen zerbrochen werden
„Ich habe als Einzelkind viele Stunden mit mir allein verbracht. Auf dem Schulweg sprach ich mit den Bäumen und erzählte ihnen Geschichten. Zu jeder einzelnen Lego-Figur, zu jeder Murmel, ja sogar zu meinen Stiften und Schulheften baute ich tiefe Beziehungen auf. Ich schuf mir meine eigene Welt, in der diese Dinge meine Freunde waren. Sie hatten alle sogar ihre eigenen Namen. Mein Herz hing an diesen Gegenständen, viel mehr, als wenn ich zum Beispiel Geschwister gehabt hätte, mit denen ich hätte spielen können. Ich packte daher jeden Tag meine wunderschöne Schultasche nicht nur mit den Schulsachen, sondern mit allen diesen Gegenständen bis oben hin voll. So habe ich mich nie allein gefühlt, weil alle mir wichtigen Dinge immer mit mir mit waren.
Mein Volksschullehrer in der zweiten Klasse machte eines Tages eine Gewichtskontrolle der Schultaschen. Er nahm meine Schultasche vom Haken und hob sie hoch. Offensichtlich war sie viel schwerer als die anderen Schultaschen, worüber er sich aufregte, weil das nicht gut für mich sei. Dann tat er etwas, das ich heute noch nicht glauben kann. In einer Sekunde wurde meine gesamte kommende Schulzeit zerstört. Er öffnete meine Schultasche und schüttete alle Dinge, die mir so vertraut waren, neben mir auf den Fußboden. Mein tiefstes Innenleben, Geheimnisse, die niemanden etwas angingen, Namen, Geschichten lagen auf einmal auf dem Mittelgang. Das Ganze kommentierte er dann noch mit der abfälligen Bemerkung: ‚Den ganzen Kram, der da drinnen ist, den brauchst du nicht mehr jeden
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