Der verletzte Mensch (German Edition)
Kindsein und Erwachsenen, gehen sie verloren.“
Viele werden in dieser schwierigen Phase der Herausbildung der eigenen Persönlichkeit vor allem in ihren Zweifeln bestätigt und nicht in ihren Talenten bestärkt. Ein tyrannischer Lehrer, zynische Eltern und keine wirklichen Freunde sind dann ein gefährlicher Cocktail für das noch junge Selbstwertgefühl. Natürlich ist das eine Lebensphase, die alle Menschen durchmachen. Die Selbstzweifel sind auch notwendig, um seine Identität zu finden, aber einen Anker braucht jeder – und wenn jemand diesen in seinem Umfeld nicht findet, wird es gefährlich. Wenn du immer nur gesagt bekommst: „Weil du dick bist, mag dich keiner. Du passt ja in keine Jeans hinein“, dann wirst du sicher vor lauter Kummer weiter fressen. Ein einfaches „Du bist okay, genau so, wie du bist“ von Tatjana Schröder-Halek bewirkt bei diesen sehr einsamen Kindern manchmal sehr viel. Sie antworten ihr dann mit „Danke, dass es dich gibt. Mir geht es jetzt schon viel besser“. Sie hat in den letzten vier Jahren 20.000 E-Mails von Jugendlichen erhalten, die in ihr häufig den einzigen Ansprechpartner auf ihrem Weg in die Welt der Erwachsenen sehen.
Natürlich gibt es auch die Starken, die aber ihre Stärke nicht aus sich selbst beziehen, sondern dadurch, dass sie diejenigen niedermachen, die sich niedermachen lassen. Viele Opfer tragen ein unsichtbares Schild, auf dem steht: „Verletze mich“, weil sie unbewusst glauben, wenn sie bereit sind einzustecken, bekommen sie etwas dafür, zumindest Aufmerksamkeit.
Gewalt – die Mehrheit sieht zu
Es gibt immer einen, der zuschlägt. Es gibt immer einen, der einsteckt. Die Mehrheit zählt weder zu den Tätern noch zu den Opfern. Es sind die, die zusehen. Und diese fügen den Opfern die größte Demütigung zu, nämlich erleben zu müssen, wie die anderen scheinbar unbeteiligt zusehen, wenn man körperlich oder seelisch verletzt wird. Es gibt ein Publikum, das dich auslacht, in dem keiner für dich einsteht. Beim in Mode gekommenen „Happy Slapping“, dem Filmen der Opfer mit dem Handy, während sie geschlagen werden, wird dann die ganze Welt des Webs zum Publikum. „Deutschland sucht den Superstar“ und „Starmania“ sind die legalen Gladiatorenkämpfe, in denen sich junge Menschen vor einem Millionenpublikum selbst verletzen dürfen.
Die große Zugkraft dieser Sendungen liegt sicher nicht in der gebotenen musikalischen Qualität, sondern im Zusehen, wenn andere von den zynischen Jurymitgliedern gedemütigt werden. Je peinlicher die Performance, desto besser die Quoten. Daher erfreuen sich ja auch die Castingshows der Vorauswahl besonderer Beliebtheit. Die dort erlebte Selbsterniedrigung anderer tröstet dann ein wenig über die eigenen Defizite hinweg. „Früher gab es öffentliche Hinrichtungen, heute gibt es das Fernsehen“, hat Martin Scorsese gesagt. Das Web bringt gefährdete Jugendliche noch auf viel gefährlichere Gedanken. Und irgendwann verschwinden die Grenzen zwischen virtueller und tatsächlicher Realität. Die ganze Welt wird dann zum Zeugen.
„Ich hasse mich selbst und ich hasse es, zu leben …“
„Ich bin in ein Mädchen verliebt und ich weiß, dass ich nicht gut genug für sie bin. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass alles in meinem Leben bedeutungslos ist. Ich habe schon viele Male an Selbstmord gedacht und es auch versucht … Ich bin müde in Bezug auf Menschen, die mir ständig sagen, dass sie mich nicht mögen. Ich habe mir mein eigenes Leben vermasselt. Ich habe längst allen vergeben, die mich verletzt haben. Aber ich konnte mir selbst nicht vergeben für die Dinge, die ich mir selbst angetan habe. Ich kann dir nicht sagen, wie traurig ich bin, mein Leben auf diese Weise zu beenden. Bitte vergebt mir alle, dass ich mir mein Leben so früh nehme. Ich liebe euch alle und werde in euren Gedanken weiterleben. Liebe, immer und ewig.“
Das sind Auszüge aus dem Abschiedsbrief des 19-jährigen Abraham Biggs. Was den Selbstmord dieses Teenagers in die internationalen Schlagzeilen brachte, ist die Tatsache, dass er die ganze Welt im Web zum Zeugen seines Leidens und Sterbens machte. Zwölf Stunden lang übertrug er seinen Selbstmord online mit einer Webkamera. Wie viele Menschen tatsächlich zugesehen haben, wie die Überdosis an Medikamenten zu wirken begann, ist unklar, dass es Tausende waren, ist unbestritten. Biggs veröffentlichte sogar seine Handynummer, die Zuseher gaben ihm aber nur zynische Tipps. Das
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