Der verletzte Mensch (German Edition)
vorgesehen? Eine Mutter aus Kärnten hat mir erzählt, dass ihre Tochter schon vor Schuleintritt in die Grundschule lesen und schreiben konnte. Das ist nicht der Regelfall, aber es kommt vor. Wissend, dass das ein Problem sein könnte – denn alles was nicht genau der Norm entspricht, ist ein Problem –, sprach sie mit der Direktorin vor dem ersten Schultag über ihr Anliegen und wollte wissen, wie man ihre Tochter besonders fördern könnte. Die Volksschuldirektorin spendete ihr Trost: „Machen Sie sich nichts daraus. Das wächst sich aus.“
„Ich wollte nie in die Schule gehen, ich habe sie vom ersten Tag an gehasst“
„Ich habe als Kind beschlossen, wie die Welt für mich sein sollte. Und diese Welt habe ich dann in meiner Fantasie erschaffen. Das hat mir sehr geholfen, meine Schulzeit, in der ich sehr gelitten habe, zu überleben.“
„Schule ist wie ein langer Regen. Da muss man einfach durch.“
Das sind typische Statements von Menschen, mit denen ich über ihre Schulerfahrungen gesprochen habe. Jeder gute Theater- oder Filmregisseur weiß, dass es kein schlechtes Publikum, sondern nur schlechte Filme gibt. Nur im Kino kann man bei einem schlechten Film nach zehn Minuten aus dem Saal gehen. In Österreich dauert jede schlechte Schulstunde unbarmherzig 50 Minuten, Deutschland ist mit 45 Minuten nur ein bisschen gnädiger. Für viele Schüler ist ihre gesamte Schulzeit wie ein einziger schlechter Film, dem sie nicht entkommen können. An vielen Schulen herrschen noch immer der Frontalvortrag und das stumpfe Auswendiglernen. Das ist so, als ob wir in der Medizin Menschen weiterhin zur Ader lassen würden. Muss das, was der große Albert Einstein Mitte des letzten Jahrhunderts über die Schule gesagt hat, heute noch immer der geheime Lehrplan für das Bildungssystem des 21. Jahrhunderts sein?
„Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles, was man in der Schule gelernt hat, vergisst.“
Schuster sollen bei ihren Leisten bleiben und Ausländer dürfen Straßenkehrer werden
„Du bist so dumm, du wirst einmal Straßenkehrer.“ Sprüche wie diesen schrieb eine Lehrerin einer Wiener Grundschule Kindern in ihre Hausübungshefte – mit roter Tinte. Das erinnert viele an ihre eigene Schulzeit. Manche waren selbst betroffen, viele waren zumindest Zeuge, wenn ein zynischer Lehrer sich als Prophet für den Lebensweg eines Mitschülers versucht hat. Besonders Kindern aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien wird oft schon in der Grundschule dieses „Du bist nicht okay“ eingebrannt. Mit stiller Wut und Ohnmacht fressen die Kinder diese soziale Abstempelung in sich hinein – sie können sich nicht wehren. Die erschreckenden Beispiele in diesem Kapitel sind keine Einzelfälle. Ganz im Gegenteil. Denn die Summe aller Einzelschicksale ergibt genau jenes sehr schlechte Zeugnis, das die OECD und die EU Deutschland und Österreich bei der sozialen Durchlässigkeit ihrer Bildungssysteme attestiert. Jüngstes Beispiel ist das vom renommierten Lisbon Council im November 2008 ausgestellte Ranking von 17 OECD-Staaten. Deutschland nimmt darin den 15. und drittletzten und Österreich den 16. und vorletzten Rang ein. [15]
Um es ganz einfach zu machen: Der soziale Status und der Wohnsitz der Eltern spielen bei der Chance auf höhere Bildung für ein Kind eine wesentlich wichtigere Rolle als dessen Talent. Und das ist ganz schlecht so. Wir können uns die systematische Vernichtung von Lebenschancen von jungen Menschen einfach nicht länger leisten. Aus wirtschaftlichen Gründen nicht, aber noch viel weniger aus humanitären Gründen. Jedes Kind hat unabhängig von seiner Herkunft ein Recht auf die maximale Nutzung seiner Talente. Es ist daher die Pflicht von Eltern, Mitschülern und Lehrern, sich gegen die soziale Diskriminierung von Schülern zu wehren, auch öffentlich. Nicht jedes Kind kann Fernsehmoderator, Tierarzt oder Popstar werden. Aber wir brauchen Schulen, die allen Kindern Mut machen und ihnen gerechte Chancen geben. Gerade dann, wenn sie zum Beispiel angeborene Schwächen in Bereichen haben, von denen wir annehmen sollten, dass diese schon lange standardmäßig beim Schuleintritt diagnostiziert und dann entsprechend behandelt werden. Ist aber nicht so, wie das Beispiel Legasthenie zeigt.
Wenn Kinder zu dumm zum Lesen sind
Bis zu 15 Prozent aller Menschen sind von Legasthenie betroffen. Das sind ein bis drei Schüler pro Klasse. Bei rechtzeitiger Erkennung könnten diese Schüler sowohl die
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