Der verletzte Mensch (German Edition)
kannte von keinem Kind die genaue Geschichte. Nach einer Woche wurde ein Kind, Maria, stark auffällig, begann grundlos herumzuschreien und Stifte durch die Gegend zu schleudern. Es wurde immer schlimmer.
Beate H. erzählt: „Maria hatte eine starke Beziehung zu mir, wollte aber, dass ich für sie allein da bin. Erst später habe ich die Geschichte von Maria erfahren: Das Kind wurde den Eltern weggenommen, weil sie es in den Kohlenkeller eingesperrt, angebunden und geschlagen hatten. Nachdem ich die Geschichte kannte, habe ich alles versucht, um zu verhindern, dass sie wieder weitergereicht wurde. Ich hatte den Eindruck, dass Maria einfach versucht hat, die Grenzen auszutesten, um herauszufinden, wie weit sie gehen kann, damit der nächste Mensch, von dem sie das Gefühl hatte, dass er sie gern hat, sie auch fallen lässt. Deshalb wollte ich, dass Maria bei mir in der Klasse bleiben kann. Dazu hätte ich eine zusätzliche Kollegin gebraucht, die gab es aber nicht. Die zuständige Schulbehörde lehnte das, ohne auf die besondere Situation einzugehen, ab. Kurz darauf haben die Pflegeeltern alle vier Kinder aus der Schule genommen.“
Die Geschichte ist leider kein Einzelfall. Das Einsperren in den Kohlenkeller stellt zu meinem großen Entsetzen offensichtlich noch immer eine nicht völlig ausgerottete Erziehungsmethode dar, wie ich in den vielen Gesprächen zu diesem Buch feststellen musste. Heute sehr erfolgreichen und selbstbewussten Unternehmern ist noch immer der Schrecken in ihrem Gesicht anzusehen, wenn sie mir von ihrer Kindheit erzählen.
Paulo Coelho und Hermann Hesse in der Psychiatrie
Auch die Einweisung des eigenen Kindes wegen Aufsässigkeit in eine psychiatrische Anstalt hat eine „gute Tradition“. An die Öffentlichkeit geraten derartige Fälle vor allem dann, wenn sich der einst so Unbelehrbare dann später zum weithin anerkannten Schriftsteller entwickelt, wie uns das Beispiel von Paulo Coelho zeigt. Schon in Vergessenheit geraten ist dagegen, dass auch die Eltern von Hermann Hesse ihren Zögling in eine „Heilanstalt für Schwachsinnige und Epileptische“ schickten. Brechen ließ sich der damals 15-jährige Hermann Hesse nicht, wie sein Brief aus dem Jahr 1892 an seinen Vater zeigt: [14]
„Meine letzte Kraft will ich aufwenden, zu zeigen, daß ich nicht die Maschine bin, die man nur aufzuziehen braucht. Man hat mich mit Gewalt in den Zug gesetzt, herausgebracht nach Stetten, da bin ich und belästige die Welt nimmer, denn Stetten liegt außerhalb der Welt. Im übrigen bin ich zwischen den vier Mauern mein Herr, ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen …“
Nicht dazugehören – der Makel der Jugend
Kinder versuchen sich die Zuwendung und Aufmerksamkeit, die sie im Elternhaus nicht erleben konnten, dann später im Kreis ihrer Alterskollegen zu holen, ja manchmal sogar zu erkaufen. Doch gerade denjenigen, die am meisten nach Anerkennung hungern, wird sie oft wieder verweigert. „Ich wäre doch bereit, alles zu tun, um dazuzugehören.“ Das ist in vielen E-Mails an die Kolumnistin eines österreichischen Jugendmagazins, Tatjana Schröder-Halek, zu lesen. Das sind dann jene, die auch in völlig irren Mutproben bereit sind, vom Dach zu springen, nur um dann erst wieder ausgelacht zu werden. Die größte Verletzung bei Jugendlichen ist aus ihrer Sicht mit Sicherheit jene tief an ihren Seelen schürfende Empfindung, „nicht dazuzugehören“. Denn fühlen sich Jugendliche ausgegrenzt, führen sie dies hauptsächlich auf sich selbst, und dabei meist auch noch auf ausschließlich oberflächliche Ursachen wie „Ich bin nicht schön genug, nicht schlank genug, nicht cool genug“ zurück, die sie schließlich zu dem fatalen Schluss führen: „Ich bin nicht gut genug.“
Sie geben also sich selbst die Schuld und verstehen nicht, dass gerade viele der von ihnen bewunderten Stars selbst lange Außenseiter waren, die hart mit ihren Defiziten kämpften und oft noch immer kämpfen. Sogar gute Schulnoten sind oft mehr Hindernis als Hilfe beim Werben um Anerkennung. „Wenn mir Schüler schreiben, dass sie mit Absicht schlechte Noten schreiben, weil sie es satt haben, als Streber zu gelten, dann erschüttert mich das immer wieder. Tatsächlich stelle ich fest, dass sich heute bereits die Mehrheit der Jugendlichen als Außenseiter fühlt. In der Pubertät darum bemüht, sich von ihren Eltern zu lösen, aber ohne Halt in einem echten Freundeskreis, also irgendwo im Niemandsland zwischen
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