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Der verletzte Mensch (German Edition)

Der verletzte Mensch (German Edition)

Titel: Der verletzte Mensch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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Tag mitschleppen. Raus damit und lass es zu Hause.‘ Ich saß völlig bloßgestellt da, sammelte meine Sachen wieder ein und entschuldigte mich bei jedem meiner ‚Freunde‘. Dieser Lehrer war bis dahin ein Vorbild für mich, den ich tief bewunderte für die Art, wie er sprach und uns unterrichtete. Ich hatte ihn ganz nah an mein Herz gelassen. Er starb für mich in diesem Augenblick. Ich habe nie wieder einem Lehrer vertraut und auch bis heute kein Vorbild mehr zugelassen. Seither ist der Leitsatz meines Lebens, an nichts mehr zu hängen. Ich will nichts besitzen, ich will nichts haben und ich rechne jeden Tag damit, dass alles weg ist. Nur so fühle ich mich unverwundbar.“
    Der Volksschullehrer hatte sicher überhaupt keine Ahnung, was er mit seiner unbedachten Handlung bei Anna K. ausgelöst hatte. Er riss eine ohnehin schwelende Wunde auf. Anna K. wurde von ihrem Stiefvater ständig vermittelt, dass sie nicht anerkannt und geliebt werde, egal was sie tat. Dass sie alles zu langsam und zu schlecht machte. Gerade der Lehrer, den sie am meisten mochte, fügte ihr dann die schwerste Verletzung zu.
    Warum handeln Menschen wie der Volksschullehrer von Anna K. so, frage ich die Psychotherapeutin Caroline Kunz. Ist es Dummheit, Ignoranz oder einfach Unachtsamkeit? „Sie tun es unbewusst und folgen ihren eigenen Werten. Sie reflektieren nicht. Sie sehen nur ihr Ziel, in diesem Fall, dass ein Volksschulkind nicht zu schwer schleppen soll, aber nicht, was sie tatsächlich bei anderen auslösen.“ Caroline Kunz meint, dass oft einfache Fragen helfen können: Was wollten Sie bei dem Kind erreichen? Was glauben Sie, empfand das Kind? Versuchen Sie sich in die Lage des Kindes zu versetzen. Bis zum zehnten Lebensjahr ist für Kinder die Anpassung an die Gruppe ganz wichtig, das Normierungsdenken gewaltig, vor allem Mädchen wollen zu den beliebtesten gehören. Wenn dann der wichtigste Lehrer durch sein Handeln vor der ganzen Gruppe bestätigt, dass man anders ist, dass man nicht zur Gruppe gehört, dann ist das eine extreme Form der Beschämung. Das Kind fühlt sich schuldig und ausgegrenzt.
    Getrübter Sonnenschein
    „Geboren vor 23 Jahren als absoluter Sonnenschein unseres Lebens, waren die ersten 14 Jahre unseres Sohnes Alfred völlig unproblematisch. Er war ein unkompliziertes Kind, konnte mit 10 Monaten laufen, sprach mit 15 Monaten wie ein ‚Erwachsener‘, war von frühester Kindheit an ein sportliches Ausnahmetalent. Golf wurde dann zu seinem bevorzugten Sport, in dem er herausragende Leistungen erbrachte. Mit 15 Jahren war dann mit allem Schluss. Alfred hat sich von seinem Sport losgesagt, hat die Schule vernachlässigt, schaffte zwar die fünfte Klasse des Gymnasiums noch, die sechste und siebte Klasse musste er wiederholen.“
    Das ist ein Auszug aus einer der inzwischen 4000 E-Mails, in denen mir vor allem verzweifelte Mütter, meist auf wenigen Seiten gedrängt, die jahrelangen Leidensgeschichten ihrer Kinder an unseren Schulen schildern. Auslöser für diese E-Mails war mein erstes Buch „Der talentierte Schüler und seine Feinde“, das im März 2008 erschienen ist und eine intensive öffentliche Debatte über den Umgang mit den Talenten unserer Kinder im Schulsystem ausgelöst hat.
    In diesem konkreten Fall beschreibt die Mutter dann, wie sie sich verzweifelt um Hilfe von Ärzten, den Lehrern und den Schulbehörden bemühte. Irgendwann beendete Alfred selbst sein Leiden. Er meldete sich von der Schule ab und begann im elterlichen Betrieb, einer weltweit tätigen Sportartikelfirma, mitzuarbeiten. Die Geschäftssprache der Firma ist Englisch, ein Fach, in dem er ab der 5. Klasse nur negativ beurteilt wurde. Bereits nach kurzer Zeit war er so erfolgreich, dass er beschloss, die Studienberechtigungsprüfung für Betriebswirtschaft zu machen. Alfred bestand und studiert seit dem Herbst 2007 neben seinem Job. Die E-Mail der Mutter an mich endet mit den Worten: „Der Versager, der faule Teufel, das verwöhnte Einzelkind, das waren die Kommentare von Freunden und in der Schule, wird seinen eigenen Weg gehen, wie auch immer der ausschauen mag. Die Schule und die Lehrer haben dazu bei unserem Sohn keinen Beitrag geleistet. Hören Sie nicht auf, dafür zu kämpfen, dass dieses miese System sich endlich ändert und junge Menschen die Chance erhalten, in dem gefördert zu werden, was sie können und wofür sie geeignet sind.“
    Kriegsberichterstattung und Veteranentreffen
    Alfred hat großes Glück gehabt. Viele

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