Der verletzte Mensch (German Edition)
Schüler haben dieses Glück leider nicht. Sie werden als psychische Kriegsversehrte aus unserem Schulsystem gestoßen, mit dem Stempel des Versagers versehen. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes gibt es in Deutschland jährlich rund 250.000 Wiederholer, die Kosten von mehr als 1,25 Milliarden Euro verursachen. Zusätzlich wird rund 200.000 Schülern pro Jahr ein Schulwechsel verordnet oder ein Schulabbruch nahegelegt. In Österreich bekommen jedes Jahr 37.000 Schüler bestätigt, dass sie zu dumm für das Schulsystem sind. Viele der E-Mails und Briefe, die ich als Reaktion auf mein Buch erhalten habe, lesen sich wie Kriegsberichterstattung von der Schulfront. Wem dieser Vergleich zu überzogen scheint, den bitte ich, sich einmal an das eigene letzte Klassentreffen zu erinnern. Dort geht es doch auch oft zu wie bei Kriegsveteranentreffen. Und dann gedenkt man derer, die nicht mehr dabei sind, weil sie verloren gegangen sind am Weg zur Reife oder zum Schulabschluss. Nicht alle von ihnen hatten das Glück von Alfred: Eltern zu haben, die an ihn geglaubt und ihn dabei unterstützt haben, selbst seine Talente zu entdecken.
Prügel und Handgranatenwerfen im Turnunterricht
„Als Schüler hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, immer die schlechtesten Lehrer der jeweiligen Schule zu genießen. Das fing mit der Grundschule an, an der ich Lehrer hatte, von denen ich regelmäßig (auch mit dem Stock) Prügel bezog. Das ging dann weiter im Gymnasium, an dem ich mit Lehrern zu kämpfen hatte, welche mich gezielt gemobbt haben. Ich litt zu der Zeit zwei Jahre lang an einer schweren Herzmuskelentzündung, bedingt durch eine verschleppte Mandelentzündung, und war durch die Medikamente sehr müde und körperlich nicht so leistungsfähig. Einer dieser Lehrer hat mich ebenfalls immer wieder geschlagen und mit der Klasse im Sportunterricht ‚Handgranatenwerfen‘ geübt. Er war bekanntermaßen ein alter Nazi, ebenso wie der damalige Direktor. Da ich von zu Hause keinen Rückhalt hatte und durch die Schule immer mehr Druck auch von den Eltern bekam – für meine Eltern waren Lehrer sakrosankt –, habe ich im Alter von zwölf Jahren einen zum Glück halbherzigen Selbstmordversuch verübt, der von meinen Eltern rechtzeitig entdeckt wurde. Dann ging es ab ins Landeskrankenhaus, wo ich physisch und psychisch durchleuchtet wurde. Meinen Eltern ging dann zum Glück ein Licht auf und sie maßen der Schule von da an nicht mehr diese Wichtigkeit bei.“
Die Schilderung dieses Leidensweges stammt nicht aus dem
19. Jahrhundert. Karl S., der mir seine Schulerfahrungen auf fünf Seiten detailliert dokumentierte, wurde im Jahr 1972 eingeschult. Er ist heute selbst Lehrer und kämpft von innen gegen die Windmühlen des Systems.
Sperrfeuer auf die schwächsten Punkte
„Hier ward mein erster Jugendtraum zunichte, An schlecht verheilter Wunde litt ich lang.“
Hermann Hesse über seine Schulzeit im Kloster Maulbronn
Unser Schulsystem ist noch immer herausragend dabei, den schwächsten Punkt jedes Schülers herauszufinden, festzuhalten und ihm dann neun bis dreizehn Jahre lang damit die Freude am Lernen zu rauben. „Du bis gut in Deutsch, das interessiert uns wenig. Du bist schlecht in Mathematik. Wunderbar, damit können wir dich jetzt einem Sperrfeuer von Demütigungen und Nachprüfungen aussetzen. Auch deine Eltern sollen mitleiden, sie sollen mit dir entweder selbst jeden Nachmittag lernen oder teure Nachhilfe zahlen“ – so könnte eine kurze Einführung in die Strategie der Talentvernichtung lauten.
Dafür ist das lebenslange Lernen dank unseres Schulsystems garantiert. Alle lernen in der Schule – die Mutter lernt, der Vater lernt, die Oma lernt, der Opa lernt, der Nachhilfelehrer lernt – nur die Schüler lernen offensichtlich nicht. Schule ist nach wie vor so organisiert, als ob die Frau den ganzen Tag zu Hause wäre und im Sommer die gesamte Familie zum Ernteeinholen gebraucht würde. Und jetzt einmal ganz ehrlich. Wenn wir gemeinsam eine Organisation neu erfinden würden mit dem Ziel, die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten: Würden wir dann unsere Kinder um sechs Uhr früh aus dem Bett reißen, in Gruppen von bis zu 36 in Klassen sperren, jede Stunde läutet die Glocke, drei Monate sind Ferien, den Rest der Zeit stressen sich Kinder, Eltern und Lehrer zu Tode. Würden wir Schule heute wirklich so bauen?
Und was ist, wenn ein Kind zum Beispiel ein bisschen schneller lernt als im Lehrplan
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