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Der verletzte Mensch (German Edition)

Der verletzte Mensch (German Edition)

Titel: Der verletzte Mensch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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sind zerrissen zwischen unserer Alltagsbelastung und unseren moralischen Verpflichtungen gegenüber unseren Partnern, Kindern, Freunden und – meist ganz am Schluss – den Alten. Erst Beerdigungen geben uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir unsere Zeit verwendet haben – zum Beispiel für Gespräche mit dem gerade Verstorbenen. „Je größer das schlechte Gewissen, umso größer ist der Sarg“, sagen die Bestatter.
    Versicherungen, Banken, Ämter und Behörden erzeugen Angst bei alten Menschen, denn Computerprogramme nehmen keine Rücksicht auf Umzüge, Operationen und Verwirrungen, sie administrieren Fälle, nicht Menschen. Wenn es dann so weit ist, dass alte Menschen nicht mehr zu Hause leben können, entmündigen wir sie, sperren sie in meist unwürdige Gebäude, nehmen ihnen bis auf ein bisschen Taschengeld alles Geld weg und – am schlimmsten – wir berauben sie ihrer Würde. Und wir tun das alles sehr bewusst. Natürlich haben wir Angst, selbst am Ende unseres Lebens genau dort zu landen, wo Felix Mitterers Theaterstück „Sibirien“ beginnt:
    „Pflege! Was für eine Pflege? Was für eine Pflege denn? Abfütterung! Abwaschung! Das ist Pflege! Die brauch’ ich nicht! Ich brauch’ sie nicht! Ich bin am falschen Ort, verstehst du? Ich brauche diese Pflege nicht! Ich brauche dieses Sibirien nicht! (…) Aber das ist nicht alles! Das ist noch lange nicht alles! Sie degradieren mich zum Kleinkind! Ich komme drauf, sie haben mir die Windeln angelegt! Ich liege angeschnallt in einem Bett und trage Windeln! Kannst du dir das vorstellen? Nein, das kannst du dir nicht vorstellen! Es ist dir ja auch egal, nicht?“ [31]
    Jeder Besuch, jedes Telefonat mit den Alten verstärkt unser schlechtes Gewissen. Dabei wäre alles ganz einfach lösbar – zumindest in der Werbung. In einem Werbefilm für irgendeinen Schokoriegel, der vor Jahren in den Kinos gezeigt wurde, sieht man einen alten Indianer, der sich von seinem Stamm entfernt, um sich, wie es Brauch bei gewissen Naturvölkern ist, das Leben zu nehmen und niemandem mehr zur Last zu fallen. Der Alte findet am Rand der Klippe den umworbenen Schokoriegel, verzehrt ihn und kehrt verjüngt zu den Seinen zurück.
    Ein langsamer, nicht aufzuhaltender Verfallsprozess
    Das Versprechen der Moderne besteht genau darin, dass sie uns Mittel an die Hand gibt (und sei es nur ein Stück Schokolade), den eigenen Niedergang aufzuhalten. Es ist ein Glück, dass dieses Versprechen, dank des technischen und medizinischen Fortschritts, sehr oft wahr gemacht werden kann. Es gibt sie wirklich, die braun gebrannten Senioren, die Golf spielen und Weltreisen mit ihren jüngeren Partnern machen. Dieses Glück aber ist tückisch, denn je gesünder wir leben und je mehr die ärztliche Kunst unser Leben zu verlängern vermag, desto sicherer ist zugleich, dass es sich nur um einen Aufschub handeln kann. Jene, die können, mobilisieren alles im Kampf um diese Gnadenfrist. Es ist, wie es in dem grandiosen Roman „Jedermann“ von Philip Roth heißt, „ein unerbittlicher Kampf, und zwar gerade dann, wenn man am schwächsten und am wenigsten in der Lage ist, den alten Kampfgeist heraufzubeschwören“. [32]
    Das Altern hat bei Philip Roth nichts Romantisches, es ist ein langsamer, nicht aufzuhaltender Verfallsprozess, von Operationen unterbrochen und zu immer größerer Einsamkeit verdammt. Denn für die Sünden unseres Lebens müssen wir erbarmungslos büßen. Im Fall seiner männlichen Hauptfigur ist es das Verlassen einer tollen Ehefrau und einer süßen Tochter wegen eines strohdummen Fotomodels. „Was soll nur aus mir werden?“, fragt ihn seine junge Superfrau, ehe er vor einer entscheidenden Operation in den OP gefahren wird. Trotz dieser aufmunternden Worte entgeht er nochmals dem Tod. Der Regenerationsprozess nach der schweren Operation verläuft zäh. Sein behandelnder Arzt fragt ihn dann, ob die ihn besuchende junge Frau seine Ehefrau sei. Als er bejaht, verweigert der Arzt die Entlassung in die häusliche Pflege, um „sein Leben zu schützen“. „Alt werden ist nicht schön“ könnte man den Inhalt von „Jedermann“ in einem Satz zusammenfassen. Etwas, das Woddy Allen schon lange davor erkannt hat: „Ich habe keine Angst, zu sterben, ich möchte nur nicht dabei sein.“
    Stirb langsam – das Brodeln in den Kehlen der Patienten
    Seit Jahren wird die Notärztin regelmäßig zu Einsätzen in Hamburger Heime gerufen. Sie ist 54 Jahre alt, seit 20 Jahren im Geschäft.

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