Der verletzte Mensch (German Edition)
Institution und des Personals besonders hilflos gegenüber. Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass nicht irgendwo im deutschen Sprachraum Fälle von massiven „Mängeln“ in einem Altenheim an die Öffentlichkeit dringen. Unter Mangel versteht man auch, wenn die Patienten um 15 Uhr das „Nachtmahl“ bekommen, weil das für das System effizienter und kostengünstiger ist. Doch die Gesellschaft verdrängt das grausige Geschehen in den Pflegeheimen.
Dass der menschenunwürdige Umgang in manchen Pflegeheimen nicht nur durch systemische Probleme der öffentlichen Verwaltung bedingt ist, sondern durchaus handfeste wirtschaftliche Interessen dahinterstecken, dokumentieren die beiden Insider Claus Fussek und Gottlob Schober in ihrem Buch „Im Netz der Pflegemafia: Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden“. So bringen nach der grausamen Logik der Pflegeversicherung dahinvegetierende Pflegebedürftige mehr Geld als Menschen, deren noch bestehenden Fähigkeiten gefördert werden. Die erfahrenen Pflegekritiker enthüllen das erschreckende Ausmaß, in dem notwendiges Personal gespart, Präventionsprogramme verhindert und eklatante Menschenrechtsverletzungen totgeschwiegen werden. [34] Da ist es auch wenig tröstlich, dass der Besuch in manch einem südeuropäischen Pflegeheim ebenfalls alles andere als einladend ist, ja die Zustände dort noch deutlich schlimmer sind.
Fährt man im Urlaub in Länder mit einem deutlich niedrigeren Lebensstandard als in der EU, kann man schnell den Eindruck gewinnen, dass in keinem Entwicklungsland alte Menschen mit so wenig Achtung behandelt werden wie bei uns. Das hat nichts mit den medizinischen Standards zu tun, die bei uns um vieles besser sind, es geht um den Stellenwert der Alten, um Würde. Simone de Beauvoir hat sich einmal die Frage gestellt: „Wie müsste eine Gesellschaft beschaffen sein, damit ein Mensch auch im Alter ein Mensch bleiben kann?“ Sie lieferte die Lösung gleich mit: „Die Antwort ist einfach. Er muss schon immer als Mensch behandelt worden sein.“
Warum alte Menschen lieber sterben wollen
Ein 81 Jahre alter Mann, der in die Aufnahmestation einer Klinik gebracht worden ist, weil er sich mit einem Messer tief in beide Handgelenke geschnitten hat, eröffnet dem Arzt in der Notaufnahme: „Wissen Sie, Herr Doktor, ich bin ein alter Soldat. Und da weiß man, wenn einer nicht mehr kann, dann muss er Schluss machen.“ Er habe an diesem Morgen festgestellt, dass er die Uhr nicht mehr lesen könne. Seine Augen waren zu schwach geworden. Und wer nicht einmal mehr die Uhrzeit kenne, der habe „abgewirtschaftet“. Dann erzählt er noch, dass er über seine wachsende Hilfsbedürftigkeit mit niemandem geredet habe, schon gar nicht mit seinen Ärzten, er habe eben niemandem „etwas vorjammern“ wollen.
Während der Selbstmord eines Zehnjährigen Fassungslosigkeit hervorruft, löst der Suizid eines 90-Jährigen zwar Schuldgefühle, unterschwellig aber auch Verständnis aus. Selbstmord ist eine Alterserscheinung. Von den 11.000 bis 13.000 Menschen, die sich jährlich in Deutschland das Leben nehmen, sind 40 Prozent über 60 Jahre alt. Je älter Menschen werden, desto auffälliger ist zudem die erschreckende Effizienz ihrer Suizidversuche: Während bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf jeden vollendeten Suizid etwa 30 bis 50 Versuche kommen, ist das Verhältnis bei den über 85-Jährigen fast eins zu eins. Die meisten sterben nicht im Heim, sondern zu Hause. Männer erhängen sich, Frauen nehmen Tabletten, springen aus Fenstern oder werfen sich vor den Zug. „Entschlossenheit und Methode“ kennzeichne diese Selbsttötungen, sagt der Hamburger Psychiater Paul Götze, „der Suizid trägt die Handschrift des Alters“.
Wenn alle alten Menschen wegen Krankheit oder Einsamkeit ihrem Leben aus eigenem Antrieb ein Ende machen würden, dann wäre die Selbstmordrate noch höher, als sie ohnehin schon ist. Der entscheidende Unterschied zwischen denen, die zwar immer bekunden, des Lebens überdrüssig und müde zu sein, dessen Ende aber gleichwohl abwarten, und denjenigen, die es gewaltsam beenden, sind Erlebnisse, die sie glauben, nicht bewältigen zu können. Oft geben triviale Ereignisse Anlass zum Suizid, wie die oben angeführte Leseschwäche. Die Tragödie ist, dass die Betroffenen das selbst nicht erkennen.
Alte Menschen stecken mit ihren Suizidgedanken in einer besonderen Falle. Einerseits sind sie hoch gefährdet, andererseits gehen sie so gut
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