Der verletzte Mensch (German Edition)
endlich akzeptieren, dass Scheidung kein Einzelereignis ist, das einige Unglückliche trifft, die meist ohnehin selbst daran schuld sind. Scheidung stellt ein riesiges komplexes Problem dar, das immer mehr Menschen betrifft. In Großstädten werden bereits 60 Prozent aller Ehen geschieden, in Arbeiterbezirken sind es oft 80 Prozent. Das heißt, wir müssen mit immer mehr Scheidungswaisen rechnen. Derzeit haben wir eine völlig unbefriedigende Rechtssituation und keinerlei vorbereitende Mechanismen zur Scheidung und insbesondere zur Betreuung der Kinder. Besonders schlimm wird es für Kinder, wenn sich in Wirklichkeit beide Eltern bei der Scheidung innerlich von ihren Kindern trennen und ein neues, eigenes Leben beginnen wollen. Diese Kinder fallen dann zwischen zwei Stühle und schlagen hart auf dem Betonboden auf.
„Man hört immer von Leuten, die vor lauter Liebe den Verstand verloren haben. Aber es gibt auch viele, die vor lauter Verstand die Liebe verloren haben.“
Jean Paul
Warum Kinder Väter brauchen
Sabine Z. verlor ihren Vater noch als Kleinkind bei einem Unfall. „Mir hat man das in diesem Alter natürlich nicht erklären können. Mir war nur sehr wohl bewusst, dass es da einmal einen Vater gegeben hat, der dann einfach weg war. Noch Jahre später bin ich zu einem Kellerfenster gelaufen und habe dort ‚Papa, Papa‘ hineingerufen, weil er dort oft in der Werkstatt gearbeitet hatte. Wenn man einem Kind so etwas nicht sagt, dann bildet es wahrscheinlich unbewusst die Vorstellung, dass man verlassen wurde. Man hat es mir erst gesagt, als ich gefragt habe, wo denn mein Vater sei, da war ich bereits sieben Jahre alt. Natürlich hat es mich in meiner Kindheit geschmerzt und ich habe mir oft gewünscht, dass es jetzt sehr schön wäre, wenn ein Papa da wäre.“
Dies war nur ein Beispiel, das zeigen soll, was fehlende Väter im Bewusstsein von Kindern auslösen. Viele Studien belegen, dass das Fehlen einer männlichen Bezugsperson in der Erziehung vor allem für die Söhne sehr belastend sein kann und sich das Risiko, dass sie aggressiv, verhaltensauffällig oder gar kriminell werden, erhöht. [30] Selbst der heute mächtigste Mann der Welt musste in seiner Jugend bekanntlich mit Drogen und massiven Selbstzweifeln kämpfen: „Die Abwesenheit meines Vaters, die Lücke, die er hinterließ, hat mich mehr geprägt als er selbst“, sagt Barack Obama.
Der Glaube an das Christkind
Die Liebe schlägt die Ehe – zumindest bei Amazon. Gibt man bei Amazon den Begriff „Liebe“ ein, listet der Computer 82.647 Titel auf. Auf Platz eins steht „100 Kleinigkeiten, die ich an dir liebe“ um wohlfeile 4,95 Euro. Unter dem Begriff „Ehe“ erscheinen nur 56.988 Bücher. Die Nummer eins, „Die 7 Geheimnisse der glücklichen Ehe“, gibt es um 8,95 Euro.
Unsere Gesellschaft verteidigt mit aller Gewalt eine Fiktion: Wir wollen alle die heile Familie, wir träumen von ihr – aber wir glauben nicht daran. Bei der Hochzeit schwören sich zwei erwachsene Menschen „Treue, bis dass der Tod uns scheidet“ und glauben wahrscheinlich in diesem Augenblick genauso fest daran, wie sie als Kinder davon überzeugt waren, dass das Christkind die Geschenke unter den Baum gelegt hat. Mit derselben Sicherheit, mit der Kinder später herausfinden, dass ihre Eltern in Wirklichkeit die Geschenke gekauft haben, erkennen die jungen Eheleute meist innerhalb kürzester Zeit, dass die romantische Aufladung des rechtlichen Vertrages, den eine Ehe darstellt, in der Realität nicht erfüllbar ist. „Die Ehe ist eine lange Mahlzeit, die mit dem Dessert beginnt“, hat Henri de Toulouse-Lautrec gesagt.
Bis dass der Tod euch scheidet
Wenn die eheliche Alltagskost zum Alltagsfrust wird, lassen wir uns das romantische Ideal zumindest am Wochenende von der jeweils neuesten Hollywood-Filmproduktion vorspielen. Die Kluft zwischen dem, was wir 90 Minuten lang auf der Leinwand sehen, und dem, was wir sieben Tage während der Woche erleben, wird dadurch noch größer. Wir sollten auch nicht vergessen, dass der feierliche Schwur „bis dass der Tod euch scheidet“ aus einer Zeit stammt, in der man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf verlassen konnte, dass das früh genug tatsächlich eintrat. Dass gerade die Weihnachtszeit ein besonders guter Nährboden für schwere Ehekrisen und Scheidungen ist, kann wohl nur als Ironie des Schicksals verstanden werden.
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht um die Opferung von Lebensträumen
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