Der verletzte Mensch (German Edition)
Ihre Beobachtungen schildert sie bisweilen unter Tränen. Erst letzte Nacht, sagt sie, habe sie vergeblich versucht, eine kranke Pflegeheimbewohnerin zu untersuchen – die Frau sei „so vollgedröhnt“ gewesen, abgefüllt mit Schlafmitteln, dass zwei Schwestern zusammen sie nicht hätten wach rütteln können. Und das komme andauernd vor. Notfälle, sagt die Ärztin, ließen sich oft schon darum nicht behandeln, weil das Pflegepersonal von den gesundheitlichen Problemen seiner Schützlinge keine Ahnung habe und Krankenakten nicht zugänglich seien.
Bei Patienten, die zu schwach zum Abhusten sind, muss regelmäßig der Schleim aus dem Rachenraum gesaugt werden, sonst drohen Lungenentzündung und Ersticken. Eigentlich wäre das eine selbstverständliche Aufgabe jedes Altenpflegers. Inzwischen, sagt die Ärztin, habe sie immer ihr eigenes Absauggerät dabei, weil die Apparate auf den Pflegestationen oft nicht auffindbar oder nicht einsatzbereit seien. Manchmal, sagt sie, höre sie das Brodeln in der Kehle der vernachlässigten Patienten schon im Flur. Und wer wisse schon, ob die entgleisten Gesichtszüge eines bewusstlosen Pflegeheimbewohners auf eine Gesichtslähmung zurückzuführen seien, Folge eines Schlaganfalls, der sofort behandelt werden müsste – oder auf Psychopharmaka, deren Einsatz als sogenannte Bedarfsmedikation dem Gutdünken vieler Pflegekräfte überlassen sei.
Austrocknung und Unterernährung in den Pflegeheimen, zu wenig Vorsorge gegen Wundliegen, zu selten gewechselte Windeln, Verabreichung von Beruhigungsmitteln „aus arbeitsökonomischen Gründen“, Gewalt gegen Bewohner mit „dem Ziel, ihren Widerstand zu brechen“ – all diese Befunde im „Vierten Bericht zur Lage der älteren Generation“ des Deutschen Bundestags überraschen umso weniger, als ein Jahr zuvor im „Dritten Bericht zur Lage der älteren Generation“ mehr oder weniger das Gleiche stand.
Ein einziges Detail schlägt nachhaltig auf den Magen des Lesers: „Nicht rechtzeitig umlagern“, steht da, sei eine gängige Form der Vernachlässigung. Man muss ein wenig über Altenpflege wissen, um zu ahnen, welche Barbarei in diesen drei Wörtern beschrieben wird. Viele Bewohner von Pflegeheimen haben Schlaganfälle erlitten. Eine häufige Folge sind Lähmungen, typischerweise halbseitig, und eine andere häufige Folge ist der teilweise oder vollständige Verlust des Sprachvermögens. Gelähmte Körper können starke Schmerzen verursachen, wenn sie falsch gelagert werden; beispielsweise rutscht der Oberarmknochen dann leicht aus der Schulterpfanne und bohrt sich in das umliegende Gewebe. Die Möglichkeiten der Betroffenen, Schmerzen zu äußern, sind aber unter Umständen sehr begrenzt. „Nicht rechtzeitig umlagern“, das bedeutet nichts anderes, als wehrlose Menschen furchtbar zu quälen. [33]
Unsere kollektive Verdrängung – das grausige Geschehen in den Pflegeheimen
Eine der größten bekannt gewordenen Serientötungen der BRD wurde im Verfahren gegen den „Krankenpfleger von Sonthofen“ öffentlich. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, zwischen dem
2. Februar 2003 und dem 10. Juli 2004 insgesamt 29 Patienten – 12 Männer und 17 Frauen im Alter zwischen 40 und 94 Jahren – in einem Krankenhaus in Sonthofen getötet zu haben. Das Landgericht Kempten verurteilte den sogenannten „Todespfleger“ wegen mehrfachen Mordes und Totschlags zu einer lebenslangen Haftstrafe. In Österreich haben vier Pflegerinnen im Pflegeheim Lainz als „Todesschwestern“ im Jahr 1991 traurige Berühmtheit erlangt. Aus den Wiener Pflegeheimen dringen immer wieder erschreckende Berichte durch, von der Opposition bereitwillig für ihre Zwecke benutzt, von der Regierung heftig dementiert.
Jenseits dieser besonders tragischen Fälle von kriminellen Einzeltätern, die für Schlagzeilen in den Medien sorgen, ist es ein Faktum, dass all die Missstände seit Jahren bekannt sind. Vor allem chronisch Kranke fallen Übergriffen leicht zum Opfer, da sie in einem stark ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnis zum Pflegepersonal stehen. Wenn sie auf sich allein gestellt sind und keine Angehörigen für sie aktiv werden, können Vernachlässigung oder gar Straftaten ihnen gegenüber unentdeckt bleiben. Sie selbst rufen meist nicht die Polizei und klagen nur selten vor Gericht. An Demenz erkrankte Personen, die seit dem Jahr 2000 über 60 Prozent der Bewohnerschaft von Pflegeheimen ausmachen, stehen einem eventuellen Fehlverhalten der pflegenden
Weitere Kostenlose Bücher