Der verletzte Mensch (German Edition)
gezwungen, aufzubrechen und uns Prüfungen oder Gefahren zu stellen.
4. Der Sinn von Prüfungen ist die Konfrontation mit unserer Angst, dort wieder verletzt zu werden, wo es am meisten schmerzt.
Erst wenn wir uns der Verletzung stellen, erleben wir, dass wir nicht daran zugrunde gehen. Wir erleben den Schmerz wieder, wir müssen nicht sterben, wir können die Angst überwinden, wir überleben. Diese Erfahrung macht uns freier.
5. Das wahre Ziel jeder Heldenreise ist nicht, anzukommen, sondern die Suche nach dem höheren Selbst.
Harry Potter musste als Waisenkind viel Zeit in Einsamkeit verbringen, eines seiner größten Talente liegt in der Fähigkeit, Freunde zu finden – er entwickelt hohe soziale Kompetenzen. Er wird von seinem Onkel und seiner Tante gegenüber seinem Cousin extrem ungerecht behandelt – er entfaltet ein hohes Verantwortungsgefühl für andere. Als Waisenkind ist ihm bewusst, dass es viel Leid und Schmerz gibt – daher kämpft er für eine bessere Welt.
Erfolg auf der Reise heißt, den Unterschied zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein könnten, zu verringern. Wären wir nicht gezwungen gewesen, aufzubrechen, hätten wir uns nie unserer Verletzung gestellt und auch nicht neue Kompetenzen in uns entdecken können. Das erkennen wir natürlich erst, wenn wir wieder an den Anfang zurückgekehrt sind. Der Kreis hat sich geschlossen. Wir sind bereit, zur nächsten Reise aufzubrechen, aber wir sind stärker, erfahrener und haben weniger Angst.
„Was nützt es uns, zum Mond zu fliegen, wenn wir die Kluft, die uns von uns selbst trennt, nicht überwinden können. Das ist die wichtigste aller Entdeckungsreisen, und ohne sie sind alle übrigen nutzlos.“
Antoine de Saint-Exupéry
Der Schlüssel
Warum in unserer tiefsten Verletzung unser größtes Talent verborgen ist
Es gibt eine direkte Beziehung zwischen Verletzung und Talent. Die Tiefe der Verletzung hat jedoch nichts mit der Größe des Talents zu tun. Sonst würde man schnell bei der Überlegung landen, dass man nur die Anzahl der verletzten Kinder steigern müsste, um die Wahrscheinlichkeit eines kommenden Literaturnobelpreisträgers zu erhöhen. Der Schlüssel liegt darin, welche Bedeutung wir selbst einer Verletzung geben. Davon hängt in hohem Ausmaß ab, ob wir diese Verletzung als Quelle für ein Talent nutzen können oder ob sie als Infektionsherd für eine negative Lebenseinstellung in uns wuchern kann.
Es gibt leider keine moralische Verknüpfung zwischen Verletzung und Talent. Aus sehr verletzten Menschen können Charakterschweine werden, die sich sehr erfolgreich in Wirtschaft, Politik und Kunst durchsetzen. Aus sehr verletzten Menschen können liebe Mitbürger werden, die leider überhaupt nichts zustande bringen. Auch aus wohlbehüteten Zöglingen mit der besten Erziehung kommen manchmal nur Hände küssende Langeweiler heraus. Viele der erfolgreichsten Unternehmer, Manager, Politiker und Medienleute haben nie mehr als die Pflichtschule geschafft und stammen aus einfachsten Verhältnissen. Es muss also andere, stärkere Kräfte geben als Ausbildung und Herkunft, die über Erfolg oder Scheitern entscheiden.
Eines haben die Lebensgeschichten von Menschen, die für sich selbst und andere etwas geschaffen haben, gemeinsam. Alles Große kommt fast immer aus nicht eingelösten Sehnsüchten. Die Sehnsüchte von Kindern sind sehr einfach. Sie haben mit Liebe, Wärme, Zugehörigkeit und Schutz zu tun. Bleiben diese ersten Sehnsüchte unerfüllt, ja werden sie Kindern gar ausgetrieben, dann bestimmen diese Verletzungen oft deren ganzes Leben.
Vieles was wir in unserem Leben tun oder auch unterlassen, wird von der Angst bestimmt, wieder dort verletzt zu werden, wo es am schmerzhaftesten ist. Die zahllosen Strategien, die wir uns ausdenken, die weiten Umwege, die wir gehen, um der Konfrontation mit unseren Verletzungen auszuweichen, sind auch Möglichkeiten, um aus unserem Schmerz Kompetenzen zu entwickeln.
Drei Beispiele, zwei Künstler und ein Wissenschaftler werden dieses Prinzip verdeutlichen. Sie können es aber auch im Leben anderer Menschen und in Ihrem eigenen entdecken.
Die zweifache Errettung des Peter Turrini
„Das was später mein Talent, meinen Beruf oder gar meine Berufung ausgemacht hat, war ein ganz und gar unfreiwilliger Vorgang. Ich wurde kein Schriftsteller, weil ich das wollte, sondern weil ich es musste. Meine tiefste Empfindung, an die ich mich erinnern kann, war, dazugehören
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