Der verletzte Mensch (German Edition)
dem Bühnenset stehend. Dann fordert er lautstark, dass man ihm Honigmilch bringen möge, die er als Kind von seiner Mutter zur Tröstung bekommen hatte. Seine verzweifelten Filmkollegen versuchen ihm zu helfen, wieder in die Realität zurückzufinden.
Doch Turrini fällt völlig in die Vergangenheit zurück. „Das war, wie wenn eine Eisdecke einbricht, und plötzlich schwemmte es einen Schwall von Empfindungen, von Zorn, Angst, von Gerüchen und Menschen über einen. Alles Geschichten, die über 20 Jahre zurücklagen. Es war eine Zeitverschiebung radikalster Art. Das Vergangene meiner Kindheit, die Ausgrenzung muss damals so bedrängend, so Angst machend gewesen sein, dass es sich nicht länger unter dieser Eisdecke des Erfolgs einfrieren ließ. Denn plötzlich war ich wieder dort, wo alles so schrecklich war.“
Als Turrini schließlich den Kopf nicht mehr bewegen kann und ständig den Wunsch hat, sich umzubringen, ruft er in der Psychiatrischen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) in Wien an. Er tut so, als ob er Auskünfte für einen Freund, der selbstmordgefährdet sei, einholt. „Ich konnte so schwer für mich akzeptieren, dass ich Hilfe brauchte.“ Im AKH realisiert man schnell, um wen es wirklich geht, und Turrini verbringt drei Monate auf der Psychiatrie.
Der Psychiater, Professor Strotzka, erkennt, dass alle Medikamente nicht wirklich zu einer Besserung führen und gibt Peter Turrini den Auftrag, dass dieser ihm jeden Tag bei der Visite ein Gedicht vorlegen müsse, sonst komme er nie wieder raus. Der Vorschlag scheint absurd – die Diagnose ist goldrichtig. Turrini hat die Sprache verloren und damit auch seinen Rettungsmechanismus aus der Kindheit selbst blockiert. Je mehr sich Turrini wieder in die Satzbauten und Wortbrücken verlieren kann, desto besser geht es ihm. Nach drei Monaten interner und noch einem Jahr externer Therapie bei Strotzka entlässt ihn dieser scherzhaft mit den Worten, er wolle ihn nicht völlig heilen, um nicht seine Kreativität zu gefährden. „Das wichtigste Kapital eines Schriftstellers ist eine unglückliche Kindheit“, hat schon Ernest Hemingway erkannt.
Die Gedichte, die in seiner Zeit in der Psychiatrie entstanden sind, gibt Turrini später unter dem Titel „Ein paar Schritte zurück“ heraus. Sie werden völlig unerwartet ein riesiger Erfolg und in 30 Sprachen übersetzt. Es muss eine Internationale der Empfindungen geben, die den pubertierenden Kärntner Jungen mit dem in Mississippi oder dem in Korea verbindet.
„Die erste Rettung meines Lebens war eine literarische durch Lampersberg und die zweite war eine psychoanalytische durch Strotzka. Ich habe später auch einmal in einer Psychiatrischen Klinik vor allen Ärzten, Pflegern und Patienten aus ‚Ein paar Schritte zurück‘ gelesen und meine eigenen Erfahrungen erzählt. Meine Offenheit stieß natürlich auf große Überraschung, sie ist aber ein Ausdruck meiner Dankbarkeit.“
„Der Rest ist Scheiße, was sonst“
Die Kindheit von Martin Scorsese würde sich perfekt als Drehbuch für einen Martin-Scorsese-Film eignen. Der spätere Oscarpreisträger und Regisseur von Meisterwerken wie „Taxi Driver“, „Die letzte Versuchung Christi“, „Casino“ und „Departed: Unter Feinden“ wächst in Little Italy in Manhattan auf, wo die Sizilianer gegen die Neapolitaner kämpfen, die Italiener gegen die Iren. In einer Welt, in der die katholische Kirche die geistliche und die Gangster die weltliche Herrschaftsform bilden. Jeder der dort aufwächst, kann zwar dieses Ghetto verlassen, das Ghetto in sich selbst kann man aber nie loswerden.
Der kleine Martin bleibt durch seine schweren Asthmaanfälle von den rauen Kämpfen der Straßenkinder zwar ausgeschlossen, aber Gewalt und Kriminalität sind für ihn stets präsent. Es ist unmöglich für ihn, unberührt durch diese Hölle seiner Kindheit zu gehen. Die wichtigste Überlebenstaktik der meisten Menschen besteht darin, nicht genau hinzublicken und bestimmte Dinge scheinbar zu übersehen. Martin Scorsese schaut ganz genau hin. Er sieht die Gewalt und das Elend aus einer Perspektive, die wir später in seinen Filmen erleben würden: der Blick vom Fenster hinab auf die Straße, mit einer Mischung aus Anteilnahme und Distanz, Mitleid und Grauen. Schon früh begeistert er sich für das Kino, das für ihn mehr als eine Flucht aus seiner tristen Realität bietet.
Allein in seinem Zimmer sitzend bastelt er kleine Bühnen, entwirft Kostüme für imaginäre
Weitere Kostenlose Bücher