Der verletzte Mensch (German Edition)
Werke und kleine Sets für seine Pappfiguren. Seine dreidimensionalen Modelle imitieren schon die Szenen in den Aufnahmestudios und haben selbst in ihrer bescheidenen Anmutung den Charakter von Bühnenbildern von Opern, die seine Filme später auszeichnen würden. Die Kirche und die Straße gehören für ihn zusammen, denn Priester und Gangster sind die am meisten respektierten Männer in Little Italy. Das erklärt auch später berühmte Aussprüche in seinen Filmen wie „Du zahlst für deine Sünden nicht in der Kirche. Du zahlst auf der Straße. Du zahlst zu Hause. Der Rest ist Scheiße, was sonst“, die er Weltklasseschauspieler wie Harvey Keitel sagen lässt. [3]
Viele andere Biografien späterer Hollywoodregisseure ähneln in frappanter Weise der von Martin Scorsese. Es sind Kinder zerfallender weißer Mittelstandsfamilien, die oft wegen kleiner körperlicher Gebrechen, längerer Krankheiten oder wie bei Steven Spielberg wegen extremer Unsportlichkeit aus den harten Straßenspielen der Gleichaltrigen ausgeschlossen waren. Kinder, die schon sehr früh gelernt haben, sich in ihrer Fantasie Entschädigung für dieses Ausgeschlossensein zu verschaffen.
Ein Leben, unglaublich wie eine Halluzination
Milton H. Ericksons Spitzname in der Schule lautet „Dictionary“, was in seinem Unverständnis im Umgang mit dem Wörterbuch begründet liegt. Er ist Legastheniker und gilt lange Zeit als zurückgeblieben – eines der vielen Leiden, die er in seinem Leben bewältigen wird. Er nimmt diese erste Hürde, indem er übt, die schwierigen Buchstaben in Halluzination vor sich zu sehen.
Kurz nach Abschluss der Highschool erkrankt Erickson 1919 an Kinderlähmung. Er fällt ins Koma, kämpft mit dem Tod und kommt erst drei Tage später wieder zu Bewusstsein – vollkommen gelähmt. Bewegungsunfähig sitzt er in einem Schaukelstuhl. Der intensive Wunsch, aus einem Fenster zu blicken, führt dazu, dass sich der Schaukelstuhl leicht bewegt. Dieses Erlebnis motiviert Erickson, weiter zu üben. Durch das Training seiner Imaginationsfähigkeiten bewirkt er, dass die Nervenbahnen seiner gelähmten Muskeln wieder zusammenwachsen. Nach knapp einem Jahr hat er es geschafft, er kann sich mithilfe der Krücken bewegen und besucht die Universität von Wisconsin. Entgegen dem ärztlichen Rat, sich auszuruhen, begibt er sich jedoch auf einen inzwischen legendären 1200 Meilen langen Kanu-Trip auf dem Mississippi. Dabei erreicht er wieder eine enorme körperliche Stärke. Zwei Jahre später kann er ohne Krücken gehen, lediglich ein Hinken auf der rechten Seite bleibt.
Auf der Universität ist er fasziniert von den Möglichkeiten der Hypnose, er übt unentwegt, erarbeitet unterschiedliche Techniken und erforscht die Einflussmöglichkeiten von Menschen. 1953 erkrankt Erickson erneut an Kinderlähmung in Verbindung mit Muskeldystrophie. So weit es ihm möglich ist, setzt er jedoch seine bis dahin umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeiten und Vortragsreisen fort. Wegen seines sich zunehmend verschlechternden Gesundheitszustands stellt er 1969 seine Vortrags- und Reisetätigkeiten ein; 1974 gibt er auch seine private Praxis auf. Ab 1976 erkrankt er ein drittes Mal an Kinderlähmung, einhergehend mit Muskelschwund und multiplen Schmerzzuständen. Danach bleibt er auf den Rollstuhl angewiesen, sein Gesicht ist halbseitig gelähmt. Die optimistische Ausstrahlung dieses körperlich schwer kranken Mannes fasziniert seine Studenten und Forscher aus der ganzen Welt, die ihn bis zum Ende besuchen.
Milton Erickson steht für ein Denken, das in erster Linie nicht nach Abgründen und Defekten sucht, sondern nach inneren Kräften, die das jeweilige Problem vielleicht lösen könnten. Insofern war er auch ein Vorbereiter der Positiven Psychologie. Am 25. März 1980 stirbt Erickson in seinem Haus in Phoenix. „Die Ressourcen, die du brauchst, findest du in deiner eigenen Geschichte“, hat er einmal gesagt.
Der Pfad von der Verletzung zum Talent – Wege und Irrwege
Peter Turrini entwickelt aus dem Schmerz des Ausgeschlossenseins die Fähigkeit, sich mit Wörtern eine andere Welt zu bauen. In den von ihm geschaffenen Welten haben die Ausgeschlossenen eine Stimme. Martin Scorsese gelingt es, mit Bildern die Gewalt seiner Kindheit zu verarbeiten. Er nutzt seine Intelligenz und Kreativität, nicht um selbst ein Verbrecher zu werden – er wird auch nicht ein ohnmächtiges Opfer –, sondern zu einem der bedeutendsten Filmregisseure der Geschichte.
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