Der verletzte Mensch (German Edition)
die Welt sich zu Füßen legen wollen“, schrieb Thomas Mann.
Der Weg von der Verletzung zum Talent unterwirft sich keinerlei moralischen Schranken. Ob aus einem Kind, das seine Schwester in frühen Jahren durch eine Infektion verloren hat, später einmal Robert Gallo wird, der den HIV-Virus mit entdeckt hat, oder ein skrupelloser Geschäftemacher, der seine Fähigkeiten der Erfindung immer neuer Designerdrogen widmet, kann man nicht voraussagen. Entscheidend ist nur, für welche Werte und Ziele ein Mensch seine Talente einsetzt. Ihre angeborenen Talente können Sie nur wenig verändern – Ihre Werte dagegen schon. Eine der wichtigsten Figuren im Neuen Testament ist Paulus, der vom talentierten Christenjäger zum talentierten Organisator einer neuen Weltreligion wurde. Der Fels, auf dem Jesus seine Kirche bauen wollte, war Petrus, der ihn dreimal verleugnete. Jesus hat sich sehr unvollkommene Menschen als seine Apostel ausgesucht. Judas verrät ihn sogar an seine Häscher und liefert ihn dem schändlichen Kreuzestod aus. Der Mensch hat also Verantwortung dafür, wie er seine Talente einsetzt – und er kann sich moralisch im Laufe seines Lebens ändern, will uns die Bibel offensichtlich sagen.
Gott würfelt – manchmal schlecht
Unzählige außerordentliche Menschen sanken namenlos ins Grab, ohne dass ihre Talente je entdeckt worden wären. Ob der Welt viel Leid erspart geblieben wäre, wenn die Wiener Kunstakademie Adolf Hitler aufgenommen und er sein sehr mittelmäßiges Maltalent ausgeübt hätte, ohne angetrieben durch die Ablehnung sein wirkliches Talent der Massenverführung zu entdecken, bleibt historische Spekulation. Ebenso, wie die Geschichte Frankreichs verlaufen wäre, wenn Napoleon Bonaparte im Jahr 1793 bei der Belagerung von Toulon eine Kugel nicht nur die Stirn gestreift, sondern ihm das Gesicht zerrissen hätte? Was wüssten wir noch von Georg Büchner, hätte seine Braut, getroffen von seinem frühen Tod, ihre ursprüngliche Absicht wahr gemacht und seine sämtlichen Schriften vernichtet? Wie viele Reformatoren, Heilige und kirchenpolitische Genies konnten 455 Jahre lang nicht den Stuhl Petris erklimmen, weil sie keine Italiener waren? [4] Und erst die namenlose Milliardenschar der kollektiv Erniedrigten, der Unterdrückten und Entrechteten, der zum Hungern verdammten Kinder, ja für alle, die mit ganz schlechten Startbedingungen ins Leben geschickt wurden, weil sie am falschen Ort oder in die falsche Familie geboren wurden, ging es gar nicht um Ruhm oder die Ausübung ihrer Talente, sondern um das nackte Überleben. Zufall spielt eine große Rolle im Leben von Menschen, das ist wissenschaftlich unumstritten. Auf Schicksalsschläge, Glück und Unglück in unserem Leben haben wir keinen Einfluss – auf unseren Charakter dagegen schon.
Eine Frage des Charakters
„Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.“
Abraham Lincoln
Je mehr Erfolg wir haben, umso bedeutender wird der Charakter. Charakter zeigt sich in den vielen kleinen Entscheidungen jeden Tag, wie wir uns unter extremem Zeitdruck im Straßenverkehr verhalten, ob wir Geld zurückgeben, wenn sich die Supermarktkassiererin zu unseren Gunsten verrechnet hat, und in den großen Entscheidungen, ob wir die Verantwortung für Erfolge genauso bereitwillig teilen wie die für die Niederlagen, an denen wir beteiligt waren. Was ist Charakter genau? Es fällt uns leichter, zu entscheiden, ob ihn jemand besitzt, als ihn zu definieren. Für John Maxwell, den Autor von „Talent allein ist nicht genug“, [5] besteht Charakter aus vier Elementen:
1. Selbstdisziplin, also die Fähigkeit, die notwendigen Dinge konsequent zu tun, auch wenn uns gar nicht danach ist. „Es sind nicht die Berge, die wir bezwingen müssen, wir müssen uns selbst bezwingen“, beschrieb Mount-Everest-Bezwinger Edmund Hillary die eiserne Willenskraft, auch in der Todeszone Schritt für Schritt weiterzugehen.
2. Persönliche Werte, nach denen wir tatsächlich auch dann handeln, wenn es uns kurzfristige Nachteile bringt, zum Beispiel das Eintreten für Schwächere oder die Treue zu unserem Partner, wenn wir gerade besonderen Verlockungen ausgesetzt sind.
3. Authentizität, ein klares Selbstbild, das uns leitet bei dem, was wir tun und warum wir es tun.
4. Integrität, also die Übereinstimmung zwischen unseren Werten und unserer tatsächlichen Lebenspraxis.
Die ausschließliche Konzentration auf die eigenen Talente, ohne auch
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