Der verletzte Mensch (German Edition)
Veranlagung fehlt, trotzdem Weltklasse werden, indem man kompensiert. Dies ist aber der weit schwierigere Weg und die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ist wesentlich größer. Das verblüffendste Beispiel einer Überkompensation von Kinderlähmung lieferte die Afroamerikanerin Wilma Rudolph, die als 17. von 19 Kindern eines Hafenarbeiters geboren wurde. Mit vier Jahren an Kinderlähmung erkrankt, erst mit acht wieder gehfähig, lief sie mit 21 Jahren Weltrekord über 100 Meter und wurde 1960 dreifache Olympiasiegerin.
Die Paralympischen Spiele für Sportler mit körperlicher und die Special Olympics für Sportler mit geistiger Behinderung sind Beispiele für Menschen, die herausragende Leistungen auf Gebieten erbringen, auf denen sie mit starken natürlichen Benachteiligungen zu kämpfen haben. Milton Erickson und Stephen Hawkings haben ihre körperlichen Defizite in beeindruckende intellektuelle Leistungen transformiert.
Das Cyrano-Syndrom
Narses, ein von der Gicht geplagter Zwerg und Eunuch dazu, befehligte das byzantinische Heer, das im Jahre 552 bei Neapel die Goten vernichtete. Napoleon, Lenin und Stalin waren klein von Wuchs, Lord Nelson und Friedrich der Große schwächlich obendrein. Nicht nur Diktatoren und Feldherren, sondern auch die Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa waren nur 1,52 Meter groß. Prinz Eugen von Savoyen, ebenfalls klein und mit einem mageren Gesicht versehen, aus dem nur die lange Nase herausragte, musste zusätzlich noch die Demütigungen Ludwigs XIV. ertragen, der seine Mutter einst geliebt hatte. So trat er mit 19 Jahren in österreichische Dienste ein, war mit 24 bereits Feldmarschallleutnant und schlug immer wieder die Türken und die Franzosen. Er wurde 13 Mal verwundet und galt als größter Feldherr seiner Zeit – ein kleiner Emigrant mit einem unvorteilhaften Äußeren.
Kann es ein Zufall sein, dass die Idealgestalten des David und des Moses dem Meißel Michelangelos entsprangen, der ein kleiner Mann mit verbeulter Nase war, für seine Zeitgenossen „der hässlichste Künstler weit und breit“? Literarisch wird dieses Phänomen im Helden Cyrano de Bergerac verarbeitet, der alle Schlachten mutig gewinnt und auch mit einem poetischen Geist ausgestattet ist, aber durch seine lange Nase entstellt, nie den Mut findet, seiner angebeteten Roxane seine Liebe zu gestehen. Erst in der Schlussszene, wenige Augenblicke vor seinem Tod, erkennt Roxane, wer ihr all die wunderbaren Briefe von der Front geschrieben hat. Cyrano steht für alle, die im Leben Dinge erreichen, wovon andere nur träumen, gepeitscht vom Schmerz ihrer eingebildeten oder tatsächlichen Entstellung, getrieben von der Sehnsucht nach dem für sie Unerreichbaren – dem Geliebtwerden.
Nicht jeder Zwerg wird ein Feldherr und nicht jeder Stotterer wie Demosthenes ein großer Rhetoriker. Aber Stotterer und Zwerge sind stärker als Schöne und Gesunde motiviert, eine geniale Begabung auch tatsächlich in geniale Werke umzusetzen. Noch stärker als seelische Konflikte wirken angeborene und oder früh erworbene Missbildungen, weil sie so unabänderlich und nicht zu verbergen sind. Sie machen solcherart Gezeichnete schon als Kinder zum Opfer von Spott und Häme. Trotzdem können derartige Defekte in begabten Menschen das beschädigte Ich durch schöpferische Tätigkeiten heilen – im Negativen zu Rachsucht und Machtgier treiben.
Adolf Hitler, Nelson Mandela und die zwölf Apostel
Welche gewaltigen positiven Energien und welch ungeheure Zerstörungskraft in der Transformation von Verletzung in Talent liegt, zeigen die Beispiele von Nelson Mandela und Adolf Hitler. Mandela wurde bekanntlich 27 Jahre lang von seinen Gegnern im Gefängnis eingesperrt und hätte nach seiner Freilassung alle Möglichkeiten gehabt, sich an seinen Feinden zu rächen. Er entschied sich aber für die Vergebung und sein Beispiel war die Voraussetzung für den beginnenden Versöhnungsprozess in Südafrika.
Adolf Hitler wurde in seiner Jugend aufs Brutalste von seinem autoritären Vater geschlagen und gedemütigt, schaffte dann den Aufstieg vom Männerasyl zum umjubelten Führer eines ganzen Volkes. Sein Weltbild vom Lebensrecht des Stärkeren, von der Grausamkeit und der Härte gegen andere Rassen wurde in dieser Schule der Gewalt gebildet und ließ ihn nie wieder los. Sein unstillbarer Hass machte ihn zum Mörder an Millionen von Menschen. „Getrieben von der schwärenden Rachsucht des Untauglichen, des zehnfach Gescheiterten, habe Hitler
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