Der verletzte Mensch (German Edition)
zurücklässt, sondern dadurch, dass man den Schmerz für andere trägt. Und da trifft sich das Christus-Ideal mit dem Boddisatva-Ideal. Wer jemals Gelegenheit hatte, dem Dalai Lama ins Angesicht zu blicken, der wird eine sehr intensive Mimik gesehen haben, die scheinbar ständig wechselt. In seinem Gesicht spiegelt sich immer das Glück, aber auch das Leid von Millionen von Menschen wider. Die Liebe ist das Ja zur Verbundenheit mit den anderen, das hat überhaupt nichts mit quälendem Märtyrertum zu tun. Der Ursprung aller individuellen Verletzungen ist die Abtrennung von diesem Ganzen. So lautet auch die Botschaft, die alle Religionen und Weisheitslehren miteinander verbindet.
Die Fakten der Wissenschaft
Langzeitstudien zeigen, welche Schutzfaktoren Menschen dabei helfen, auch die schmerzhaftesten Prüfungen des Lebens zu bewältigen
Dan Brown ist der finanziell erfolgreichste Kryptologe der Welt. Mit seinem Buch „The Da Vinci Code“, von dem weltweit bisher mehr als 60 Millionen Exemplare verkauft wurden, führt er seine Leser durch eine Welt der verschlüsselten Geheimnisse.
Warum die Psychologen einige der wichtigsten Erkenntnisse für die Zukunft der Menschheit hinter Wörtern wie Salutogenese oder Resilienzforschung verbergen, ist mir dagegen ein Rätsel. Hinter diesen kryptologischen Unwörtern verbergen sich keine Geheimlehren, sondern die Ergebnisse von Langzeitstudien, die zeigen, welche Schutzfaktoren Menschen dabei helfen, selbst die schmerzhaftesten Prüfungen des Lebens zu bewältigen. Besonders wertvoll sind diese Forschungsergebnisse vor allem deshalb, weil sie beweisen, dass ein erfülltes Leben auch dann möglich ist, wenn man unter sehr schwierigen sozialen und familiären Bedingungen aufwächst.
Mit Freud und der Psychoanalyse begann das Zeitalter der Traumata. Davor wurden das seelische Leid und die Verletzbarkeit des Menschen besonders in der Literatur abgehandelt. Die Psychologie des 20. Jahrhunderts war vor allem eine Psychologie der Opfer. Die Auswirkungen der frühkindlichen Verletzungen auf den Menschen gewannen immer mehr Bedeutung in der wissenschaftlichen Betrachtung. Wichtige Bereiche der Psychologie – etwa die Klinische Psychologie – sehen ihre Hauptaufgabe darin, den Defiziten und negativen Seiten der menschlichen Psyche den Kampf anzusagen. So findet sich etwa unter 100 Untersuchungen zum Thema Trauer eine einzige zum Thema Glück.
Der nächste wichtige Schritt muss eine positive Psychologie sein, die aus den Erkenntnissen der alten Weisheitslehren genauso schöpft wie aus den jüngsten Ergebnissen der Gehirnforschung. Die noch sehr junge Disziplin Positive Psychologie betont die guten Aspekte des menschlichen Lebens und Miteinanders. Damit bietet sie eine neue und wichtige Sichtweise. Glück, Lebenssinn, Geborgenheit, Verzeihen, Gelassenheit – wer möchte das nicht in seinem Leben erfahren?
Was braucht der Mensch, um auch trotz widrigster Umstände seine Chance auf ein erfülltes und glückliches Leben zu wahren? Angesichts der Tatsache, dass wir auf einen Planeten mit zehn Milliarden Einwohnern zusteuern, auf dem die Mehrheit der zukünftigen Erdbewohner weder finanziell noch was die unmittelbare familiäre Situation betrifft, keineswegs optimale Bedingungen zu erwarten hat, ist die Vermittlung einer Positiven Psychologie eine der zentralen humanitären Aufgaben der Menschheit. Die Lösung kann schon aufgrund der begrenzten finanziellen und fachlichen Ressourcen nicht darin liegen, dass jeder Mensch seinen eigenen Psychotherapeuten bekommt – das ist weder machbar noch wünschenswert.
Seine Eltern kann man sich nicht aussuchen. Die Mitgliedschaft im „Golden Sperm Club“, also das Glück, in eine liebevolle und wohlhabende Familie hineingeboren zu werden, wird nach bisher nicht bekannten Regeln vergeben. Die gute Nachricht ist aber, dass wir auch dann eine Chance auf ein glückliches Leben haben, wenn wir bei unseren Eltern nicht das große Los gezogen haben oder wenn wir besonders schweren Schicksalsschlägen ausgesetzt werden. Leiden, Schmerzen und Verletzungen sind unausweichliche Elemente des menschlichen Lebensweges, entscheidend ist aber der Umgang damit.
Wie Kinder lernen, schlechte Karten in ihrem Leben gut auszuspielen
Als Pionier der Langzeitforschung über die Lebenschancen von Menschen mit besonders schwierigen Startbedingungen gilt die amerikanische Forscherin Emmy Werner. Mit ihren Studien über Risikokinder auf der Hawaii-Insel Kauai
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