Der verletzte Mensch (German Edition)
begründete sie eine Forschungsrichtung, die in der Fachsprache Resilienzforschung heißt. Die Resilienzforschung und viele verwandte Konzepte räumen mit dem Dogma auf, dass Menschen mit schwierigen familiären Startbedingungen oder mit frühen Traumata quasi zwangsläufig dazu verurteilt sind, im Leben zu scheitern. Und das ist nicht romantisches Wunschdenken. Allein in den USA gibt es heute zehn Langzeitstudien von Hochrisikokindern, die beweisen, dass Kinder trotz signifikanter Belastungen wie Armut, psychische Störungen der Eltern, Missbrauch und Scheidung ihr Leben bewältigen konnten. Ähnliche Untersuchungen in Großbritannien, Neuseeland, Australien, Dänemark, Schweden und Deutschland kommen trotz unterschiedlicher geografischer und ethnischer Rahmenbedingungen zu den gleichen Ergebnissen. Menschen sind nicht nur ein Produkt des Umfelds, in das sie geboren wurden. [6]
Was waren die Faktoren, die die später im Leben erfolgreichen Kinder von jenen unterschieden, die das nicht schafften? Meist war es eine Kombination mehrerer Faktoren, die halfen, aus dem vorgegebenen Teufelskreis belastender Umstände auszubrechen:
• Freunde: Wenn Kinder schon keine Eltern haben, die sie unterstützen, ihnen Mut machen und sie fördern, dann brauchen sie zumindest einen Freund und Mentor, der diese Aufgabe erfüllt. Das konnte ein Verwandter, ein Lehrer oder ein Schulfreund sein.
• Verantwortung: Wenn etwa ältere Geschwister die Erziehungsverantwortung für ihre jüngeren Brüder oder Schwestern übernahmen, weil diese von den Eltern nicht ausreichend wahrgenommen wurde, dann war das ein ganz wichtiger positiver Schutzfaktor für ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung.
• Charakter und Temperament: Ein ausgeglichener Charakter war eindeutig hilfreicher als ein cholerisches Temperament.
• Spiritualität: Die Eingebundenheit in eine religiöse oder andere idealistische Gemeinschaft stellte ebenfalls einen entscheidenden Faktor dar.
Die Resilienzforschung zeigt, dass es um mehr als die Anpassung an die schwierigen Umstände geht, also nicht nur um das Durchstehen und Aushalten. Menschen, die sich von ihren Handicaps befreien können, entwickeln ihre Stärken nicht trotz der widrigen Umstände, sondern wegen dieser. Sie können tatsächlich über sich hinauswachsen. [7]
„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
Bertolt Brecht
Das „Taliban-Phänomen“
Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft oder spirituelle Praktiken wie zum Beispiel Meditation wurden lange in der Psychotherapie tabuisiert. Dabei zeigen die Kauai-Studien und viele andere, wie wichtig gerade die spirituelle Dimension für den Menschen ist. Die Psychotherapeutin Caroline Kunz: „Man darf die spirituelle Entwicklung der Menschheit nicht von der emotionalen trennen. Das eine bedingt das andere. Hoher Intellekt gekoppelt mit abgehobener Spiritualität ohne emotionale Reife ist gefährlich für den Einzelnen und ganze Gesellschaften. Das ‚Taliban-Phänomen‘ ist nicht nur auf die islamische Gesellschaft beschränkt. Die Erkenntnis, dass wir Teil eines höheren Ganzen sind, gibt uns Hoffnung, Zuversicht und Sinn. Das kann der Glaube an einen Gott oder eine höhere Ordnung sein. Das kann aber genauso gut das tiefe Fühlen der Verbundenheit mit der Natur und mit allen Lebewesen sein.“
Immun gegen das Schicksal
In der klassischen Schulmedizin hat man erkannt, dass die wirksamste Waffe gegen den Herztod nicht die Entwicklung immer besserer Herztransplantationsmethoden ist, sondern das Bestreben, Menschen davon zu überzeugen, nicht zu rauchen, sich mehr zu bewegen und sich gesund zu ernähren: Vorbeugen statt heilen. Diese wesentliche Erkenntnis, die schon Millionen von Menschen das Leben gerettet hat, steht, was die Gesundheit unserer Seele betrifft, noch aus. Wäre es nicht sinnvoll, den Kindern genau so wie die Zahnbürste für das tägliche Zähneputzen auch ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem sie sich gegen die Verletzungen des Lebens wappnen können? Nicht um sie davor zu bewahren, aber um sie darauf vorzubereiten, damit umzugehen. „Zähneputzen für die Seele“ nennt das der Psychiater Manfred Stelzig. [8] Das Schicksal kann man weder abschaffen noch durch administrative Maßnahmen ersetzen, wie das manche Sozialbürokraten in der Hochblüte des sogenannten Wohlfahrtsstaates geglaubt haben. Wir können Verletzungen nicht vermeiden, aber verhindern, dass aus verletzten
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