Der verletzte Mensch (German Edition)
Gelegenheit ist, einiges zu ändern.
Das Schöne ist, dass ausreichend Zeit für alle da ist. Die Zeit ist immer im Jetzt. Wir brauchen leider meist Krankheiten oder schwere Schicksalsschläge, um plötzlich in das Jetzt geworfen zu werden. Das Geheimnis der Zeit liegt in diesem Gedicht von Jorge Louis Borges verborgen:
„Die Zeit ist ein Strom, der dich mitreißt, aber du bist der Strom. Sie ist ein Tiger, der dich zerfleischt, aber du bist der Tiger. Sie ist ein Feuer, das dich verzehrt, aber du bist das Feuer.“
Es gibt viele einfache Möglichkeiten, dieses Leben im Jetzt zu üben. So empfiehlt uns Bruder David, jeden Tag eine Viertelstunde früher aufzustehen, um etwas Zeit für uns selbst zu gewinnen. Zeit, in der wir nichts Praktisches zu tun brauchen. An dieser zusätzlichen Zeit können wir uns einfach erfreuen, nur das zu tun, was wir genießen wollen. Manche hören Musik, andere meditieren und wieder andere trinken ganz bewusst und völlig ungestört ihren Kaffee oder Tee. Diese kurze Einstimmung und Begrüßung des neuen Tages erdet uns in uns selbst, bevor wir uns dem Notwendigen des Tagesablaufs ausliefern.
Wenn wir am Beginn des Tages nicht fragen: „Wie hole ich heute am meisten aus diesem Tag heraus?“, sondern: „Wie kann ich jemanden ein wenig glücklicher machen?“, sind wir am Ende selber glücklicher. Jemand, der die frühe Morgensonne als Geschenk erlebt hat, wird viel eher wie eine kleine Sonne durch den Tag gehen und anderen Menschen strahlend entgegenkommen. Wir können lächeln. Wir können andere wärmen. Wir können den Tag für andere aufhellen.
Die „Schule des Herzens“ heißt, die Anforderungen und Aufgaben des Tages aus ganzem Herzen anzugehen. Arbeit wird von vielen als notwendiges Übel gesehen, um die Miete zahlen zu können. Die Maxime „Zeit ist Geld“ treibt die Wirtschaft in immer neue Effizienzsteigerungsprogramme hinein, durchleuchtet jede Lücke in der Organisation nach Einsparungspotenzialen, um dann an der Börse zu sehen, dass auf einmal die ganze Organisation nur mehr die Hälfte wert ist und die zuvor mühsam eingesparten Milliarden sich über Nacht in nichts aufgelöst haben. Doch auch wir wollen manchmal unsere Zeit am Arbeitsplatz möglichst schnell „hinter uns bringen“. Wenn wir aber die Stunden zusammenzählen, die wir in unserem Leben damit verbracht haben, „etwas hinter uns zu bringen“, macht das wohl leicht die Hälfte unserer bisherigen Lebenszeit aus. Denken Sie an Ihr kleines gelbes Post-it.
Wer am Morgen in den Bus, die Bahn oder das Auto steigt, wenn es noch dunkel ist, braucht gar nicht beginnen, sich Sorgen über den kommenden Tag zu machen. Wir müssen nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit kommt, achten und uns darüber freuen, dass wir einen neuen Tag erleben werden. Dann können wir uns fragen: „Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Was ist mir heute wichtig?“
Mitgefühl beginnt mit Großzügigkeit und Achtsamkeit
Großzügigkeit kann auf gesunde Art ansteckend wirken. Derjenige, der etwas bekommt, spürt auch, dass es sich dabei eben nicht um ein Tauschgeschäft handelt, bei dem man eine genau bemessene Leistung gegen eine entsprechende Gegenleistung tauscht. Wie oft waren wir schon freudig überrascht, dass wir von jemandem etwas empfangen haben, das wir offensichtlich so gar nicht verdienten. Und welches schöne Gefühl ist es, jemanden mit seiner Großzügigkeit zu erfreuen. Wir können auch mit unserem Mitgefühl großzügig sein. Unsere Welt ist so entfremdet, dass wir buchstäblich nicht mehr in Berührung miteinander stehen. Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet. „Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen vermittelt werden kann“, empfiehlt Bruder David eine ganz einfache Geste, die große Wirkung haben kann.
Für die Mönche bietet das gemeinsame Mittagessen eine gute Möglichkeit für die tägliche Schulung in Aufmerksamkeit. So steht in der Regel des Heiligen Benedikt, dass man nie selber um etwas bittet, sondern immer darauf zu achten hat, was ein Nachbar braucht. Dass diese Regel nicht nur das Mitgefühl schult, sondern manchmal auch den Verstand, zeigt folgende Geschichte. Ein Mönch isst seine Suppe und sieht, dass eine Maus in seinen Napf gefallen ist. Was soll er tun? Er soll ja auf die Bedürfnisse seines Nachbarn
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