Der verletzte Mensch (German Edition)
die Moskitos in Venedig, aber die Gefahr vor ihrer Haustüre übersahen sie völlig. Sie waren so davon überzeugt, dass die ‚ungebildeten russischen Barbaren‘ keine Chance haben würden, die Deutsche Wehrmacht vor Budapest zu besiegen. Der Einzige in meinem ganzen Umfeld, der klar gesehen hatte, was passieren würde, war der neunjährige Sohn des Hausmeisters meines Onkels: ‚Heute seid ihr alle wohlhabend und fühlt euch sicher, in fünf Monaten wird alles ganz anders sein.‘ Ich lachte ihn wie alle anderen aus. Es zeigte sich, dass der kleine Hausmeistersohn die Informationen und Signale rund um ihn viel klarer interpretierte als alle gebildeten und reichen Leute. Dieses Erlebnis hat mir die Augen geöffnet. Ich habe für mich beschlossen, mir selbst und anderen dabei zu helfen, immer die Realität klar zu sehen und diese nicht zu verdrängen.“
Diese bitteren Erfahrungen weckten in Csikszentmihalyi das Interesse für Philosophie, Literatur und Religion. Durch einen Zufall hörte er als 15-Jähriger einen Vortrag von C. G. Jung in der Schweiz. „Das, was er sagte, unterschied sich fundamental von allem, was ich bis dahin gehört hatte. Von diesem Augenblick an war ich von Psychologie fasziniert und ging dann auch später in die USA, weil man dort besser studieren konnte.“ Csikszentmihalyi arbeitet übrigens seit seinem 14. Lebensjahr und schloss daher nie eine Schule ab. In den USA gab es damals eine Studienzulassungsprüfung, zu der man auch antreten konnte, wenn man überhaupt keine Schulzeugnisse hatte, die er bestand.
Die Erforschung der Freude als Lebensziel
Csikszentmihalyi prägte auch die Erkenntnis, dass seine überlebenden Familienmitglieder, die sich bis dahin nur über Status und Besitz definiert hatten, ihre Lebensperspektive völlig verloren, als sie materiell nichts mehr besaßen. Sie verfügten über keinerlei innere Antriebskräfte, sondern waren völlig von ihrem materiellen Besitz abhängig. Und daher beschloss er, etwas in seinem Leben zu tun, das langfristig für ihn und die Menschen Sinn stiften würde. Er wollte auch in keiner Welt leben, die von Ignoranz, Selbstsucht und der Jagd nach materiellen Gütern beherrscht würde. Die Erforschung der Freude war das, was ihn begeisterte. Er wollte herausfinden, was Menschen in ihrem Tun antrieb und wie sie dabei Freude und Sinn empfinden konnten.
Eine „Schule des Herzens“ ist auch immer eine Schule der Freude. Wir werden verblüfft feststellen, dass Csikszentmihalyi mit den Methoden der empirischen Sozialforschung zu fast den gleichen Handlungsempfehlungen über die Befähigung zum täglichen Glück kommt wie Bruder David.
Warum der Mensch zum Guten veranlagt ist
Die Psychologie hat sich immer nur mit der negativen Seite des Menschen auseinandergesetzt. Du kletterst bloß deshalb auf hohe Berge, um deine Männlichkeit zu beweisen. Du hilfst anderen nur deshalb, weil du dich selbst hilflos fühlst. Jedes positive Verhalten des menschlichen Lebens wurde immer nur als Kompensation von Defiziten erklärt. Bis zu einem bestimmten Ausmaß war diese Analyse menschlichen Verhaltens durchaus zutreffend, lediglich der Versuch, alles nur mehr mit den Defiziten und Komplexen des Menschen zu begründen, ist für Mihaly Csikszentmihalyi lächerlich. Dieses Denken führte zu einer Vielzahl von falschen Schlüssen ähnlich wie in der Astronomie vor Kopernikus. Es macht einen großen Unterschied, ob wir die Erde oder die Sonne als Mittelpunkt unserer Welt definieren. Das Selbstbildnis des Menschen als Mittelpunkt der Schöpfung wurde massiv von den Lehren Darwins, Marx’ und Freuds in Frage gestellt. Sie zeigten, wie fragil die Natur des Menschen ist, unterworfen den Gesetzen der Genetik, den sozialen Klassen und den Trieben. Aber auch die Schrecken zweier Weltkriege, die Millionen von Menschen scheinbar ohne vernünftigen Grund vernichteten, stellten die Menschheit als zivilisierte Rasse fundamental in Frage. Diese alte Sicht der Dinge lautet, dass wir nach wie vor Teil des Tierreiches sind und primär von niedrigen Instinkten getrieben werden.
Warum bei den Pavianen die Klügsten über die Stärksten herrschen
Dass die Stärkeren die Schwächeren fressen, stimmt zweifellos für Insekten. Aber neuere Untersuchungen über Paviane zeigen, dass unsere Vorstellung, dass die Alpha-Männchen alle anderen beherrschen und die meisten Kinder haben, so nicht stimmt. Eine Studentin Csikszentmihalyis hat Paviane 16 Jahre lang in Kenia beobachtet und so
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