Der verletzte Mensch (German Edition)
wir uns viele Möglichkeiten, uns zu freuen. Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran. Die kleine Tochter sieht ihre Mutter an und fragt: „Mutti, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?“ Kinder wissen instinktiv, wie unvergleichlich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Dieses kleine Kind existiert noch in jedem von uns, wir müssen es nur befreien und dazu ermutigen, selbst wieder solche Fragen zu stellen.
Zeit für das Wichtige – was wir in den Klöstern über die Zeit lernen können
„Im Kloster ist Zeit etwas völlig anderes als das, was Uhren messen können. Die Zeit gehört uns nicht. Wir behaupten, Zeit zu haben, Zeit zu gewinnen, Zeit zu sparen; in Wirklichkeit gehört uns die Zeit nicht. Sie wird nicht von der Uhr abgelesen, sondern daran, wann es Zeit ist . So werden im Kloster Dinge nicht getan, wenn einem gerade danach zumute ist, sondern wenn es dafür Zeit ist. Nach der Regel des Heiligen Benedikt wird von einem Mönch erwartet, dass er die Feder aus der Hand legt im Augenblick, wo die Glocke läutet, und nicht einmal mehr ein Pünktchen aufs i setzt. Das ist die Askese der Zeit.“
Für den modernen Menschen, der alle paar Minuten seine E-Mails checkt, dessen persönlichen Gespräche ständig durch Telefonate unterbrochen werden, hört sich dieser kurze Ausflug in die klösterliche Welt wie eine Reise zu einem weit entfernten Planeten an. Mit Informationen übersättigt, oft jedoch aller Sinne beraubt, haben wir das Gefühl, in einem endlosen Strudel von Pflichten und Aufgaben gefangen zu sein. In vielen Organisationen herrscht ohnehin schon das Motto von Mark Twain: „Nachdem wir endgültig das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir die Anstrengungen.“ Unsere westliche Leistungsgesellschaft verstärkt dann noch die Auffassung von Zeit als einem beschränkten Gut: Ständig müssen wir Termine einhalten, ständig fehlt uns Zeit. Wir leben in der Zeit des rasenden Stillstands.
Dabei wäre alles ganz einfach. In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt. Wir sind dann jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das die Zeit überwindet. Einer der wesentlichen Gründe für das Unbehagen in unserem gestressten Alltag liegt darin, dass wir entweder ständig in der Vergangenheit grübeln oder uns Sorgen über die Zukunft machen und dabei vergessen, dass unser Leben ausschließlich im Jetzt stattfindet. Die Mönche werden daran durch die Glocken, durch die regelmäßigen Gebete, durch die Gesänge erinnert. Das „Tue, was du tust“ fordert sie auf, was sie tun, wirklich zu tun. Das heißt, auch scheinbar Unproduktives wie Singen oder Spazieren, Routinetätigkeiten wie Gemüse schneiden oder Bücher abstauben und Lustvolles wie Essen, Trinken und Feiern wirklich zu tun und nicht ständig von einem schlechten Gewissen getrieben zu werden, dass es jetzt eigentlich Wichtigeres, Dringenderes und vor allem Produktiveres zu tun gäbe.
Aus meiner eigenen Erfahrung aus Wirtschaft und Politik weiß ich, je mehr Macht man über andere gewinnt, umso weniger Macht hat man über seine Zeit. Hat man es ganz an die Spitze einer riesigen Organisation wie eines Unternehmens oder eines Ministeriums geschafft, erhält man jeden Morgen ein Blatt Papier, auf dem der gesamte Tag bis in das kleinste Detail durchgeplant ist. Man wird zum völligen Sklaven seiner Zeit.
Ich frage Bruder David, wie er damit umgeht, dass sich ja weit mehr Menschen an ihn wenden und ihn treffen wollen, als er das tun kann? „Ich prüfe immer, wer mich dringender braucht. Und ich halte Zusagen, die ich einmal gegeben habe, ein.“ Er nimmt sich auch Zeit für sich selbst, dann erhalten alle Freunde von ihm eine E-Mail, in der er sie in liebevollen Worten um Verständnis dafür ersucht, dass er jetzt in eine Klausur oder auf eine Reise geht und daher die nächsten drei Monate nicht erreichbar sein wird.
Die neuen Reichen werden die Zeitreichen sein. Zeitreichtum heißt, die Macht zu haben, seine Zeit für jene Dinge zu nutzen, die einem wirklich wichtig sind. Das ist übrigens ganz leicht herauszufinden. Schreiben Sie einfach alles, was Ihnen in Ihrem Leben wichtig ist, auf ein Post-it-Zettelchen. Wenn Sie sich dann fragen, wie viel Zeit Sie jeden Tag dafür aufwenden, was da auf dem kleinen gelben Stück Papier geschrieben steht, wird Ihnen schnell bewusst, dass das eine gute
Weitere Kostenlose Bücher