Der verletzte Mensch (German Edition)
erfahren haben, die auf Kälte, Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Blindheit gestoßen sind, als sie zur Welt kamen, und deren ganze Kindheit und Jugend in dieser Atmosphäre verlief, können Liebe nicht schenken – wie sollten sie auch, wenn sie noch gar nicht wissen, was Liebe ist und sein kann? Trotzdem werden ihre Kinder überleben. Und wie die Eltern werden auch sie sich nicht daran erinnern, welchen Qualen sie einst ausgesetzt waren, weil sowohl all diese Qualen als auch die dazugehörenden Bedürfnisse verdrängt, das heißt aus dem Bewusstsein vollständig verbannt worden sind.“ [9]
Könnten Eltern fühlen, wie sie ihr Kind verletzten, müssten sie auch entdecken, wie sie selbst einst verletzt wurden. Aus dieser tragischen eigenen Vergangenheit entsteht ein innerer Zwang, sich später selbst an seinen Kindern zu verschulden. Ein generationsübergreifender Zyklus der seelischen Verhärtung entsteht. Das mag auch der Grund sein, warum wir in den großen Familienchroniken der Literatur immer wieder die gleichen Geschichten lesen. Selten allerdings so zartfühlend formuliert wie vom großen französischen Schriftsteller Marcel Proust in seinem Monumentalwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Auf der Suche nach der Zärtlichkeit
„Mein einziger Trost, wenn ich schlafen ging, war, dass Mama heraufkommen und mir einen Kuss geben würde, wenn ich bereits lag. Aber dies Gutenachtsagen dauerte nur so kurze Zeit, sie ging so bald schon wieder, dass der Augenblick, da ich sie heraufkommen und dann in dem Gang mit der Doppeltür das leichte Rascheln ihres Gartenkleides aus blauem Musselin mit kleinen strohgeflochtenen Quasten hörte, für mich ein schmerzlicher Augenblick war. Er kündigte schon den nächsten an, der auf ihn folgen sollte, wo sie mich verlassen haben und wieder unten sein würde. Das ging so weit, dass ich mir beinahe wünschte, dies von mir so heiß ersehnte Gutenachtsagen möge erst so spät wie irgend möglich stattfinden, und die Gnadenfrist, in der Mama noch nicht gekommen wäre, zöge sich recht lange hin. Manchmal, wenn sie, nachdem sie mich geküsst hatte, die Tür öffnete, um zu gehen, wollte ich sie zurückrufen und ihr sagen: Gib mir noch einen Kuss, aber ich wusste, dass sie dann auf der Stelle ihr strenges Gesicht zeigen würde, denn das Zugeständnis, das sie meiner Trauer und Aufregung machte, indem sie heraufkam und mir mit diesem Friedenskuss gute Nacht sagte, verdross jedes Mal meinen Vater, der das Zeremoniell übertrieben fand.“ [10]
75 Jahre nachdem dieser Text von Marcel Proust das erste Mal erschienen ist, erzählte mir die heute 35-jährige Volksschullehrerin Hannah K. aus ihrer Kindheit. Die Sprache ist eine andere – die tiefe Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit ist dagegen zeitlos.
„Mein Vater ist tödlich verunglückt, als ich eineinhalb Jahre alt war. Mein Stiefvater war leider nicht in der Lage, diese Rolle für mich zu spielen. Ich werde nie vergessen, dass ich einmal ins Schlafzimmer ging und zu meiner Mutter ins Bett wollte. Meine Mutter schlief schon und mein Stiefvater las. Er schickte mich einfach wieder weg, weil er sich gestört fühlte. Das war eine wahnsinnige Kränkung für mich, weil meine Mutter hätte mich sicher genommen, und anstatt mich zu sich unter die Decke zu nehmen, schickte er mich einfach zurück in mein Zimmer. Ich schlich aber am Boden – so, dass er mich nicht sehen konnte – zum Bett meiner Mutter und schlüpfte zu ihr. Ich mache meinem Stiefvater keinen Vorwurf, er hat sicher das gemacht, was ihm emotional möglich war. Er hat es einfach nicht besser verstanden.“
Die wiedergefundene Zärtlichkeit
Kinder zu erziehen ist herausfordernder als jede andere Tätigkeit. Kinder sind die einzige unkündbare Beziehung im Leben eines Menschen. Man kann viel falsch machen, und trotzdem ist es keine schwer erlernbare Wissenschaft. Es bedarf nur einiger weniger Gaben:
Es geht um Zeit, Zuneigung, Zärtlichkeit.
Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm die Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter ihrerseits, hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es. Das ist sie, die Spirale der Freude. Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug? Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte? Die Aufwärtsbewegung der Spirale
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