Der verletzte Mensch (German Edition)
Leidensgeschichte, und klingen dabei immer verzerrter und schriller. Irgendwann können wir diese nicht mehr hören und auch andere Menschen wenden sich ab.
Sind wir dagegen selbst betroffen, dann erleben wir, wie schwer es ist, aus dieser Endlosschleife herauszukommen. Der Gedanke an das, was man uns angetan hat, beherrscht unser Denken, unser Handeln und unsere Gefühle. Unser Gehirn kann leider nicht unterscheiden, ob bestimmte Gefühle gut oder schlecht für uns sind, es schüttet einfach zusätzliche Botenstoffe aus, wann immer wir uns in den negativen Fantasien verlieren, und das macht uns mit der Zeit davon abhängig. Wir werden süchtig nach unserem Leiden, ohne es zu merken – ein ganz normaler chemischer Vorgang. Wut und Schmerz sind durchaus notwendige Reaktionen auf Verletzungen, die uns helfen sollen, uns abzugrenzen und für die Zukunft zu lernen. Im Gegensatz zur Lagerung von Wein tragen diese Gefühle aber im Laufe der Jahre nichts zu unserer Reifung bei, im Gegenteil, sie verbittern uns. Der Grund, warum wir unser Leid so gerne anderen mitteilen wollen, ist unser Drang, den Täter zu diffamieren. Wir wollen erreichen, dass er isoliert wird, dass alle Welt weiß, was er für ein Schwein ist.
Die spontane Reaktion vieler tief verletzter Menschen, wenn sie das Wort Vergebung auch nur hören, ist, dass sich ihr Herz zusammenzieht und sie von einer Fülle unterschiedlicher Gefühle überschwemmt werden. Zorn und Ärger mischen sich mit Traurigkeit über den Verlust und Angst, je wieder vertrauen oder gar lieben zu können. Mit jeder Faser ihres Körpers wehren sie sich allein gegen den Gedanken, dem Täter je verzeihen zu können. Und damit sind sie dann auch schon in die entscheidende Denkfalle gegangen, warum ihnen Vergebung unmöglich erscheint. Vergebung bedeutet eben nicht unbedingt, dem anderen mit dem Ziel der Versöhnung zu verzeihen. Vergebung bedeutet auch nicht, das schmerzhafte Ereignis zu vergessen, ein gemeines Verhalten aus Großmut zu entschuldigen oder das Leid im Nachhinein zu verleugnen. Sie können jemandem vergeben und trotzdem nie wieder mit ihm sprechen. Versöhnung hindert uns auch nicht, unsere rechtlichen Ansprüche gegen den Täter weiterzuverfolgen, es ist aber die Erkenntnis, dass uns eine mögliche rechtliche Verurteilung des Täters zwar kurzfristig Genugtuung verschafft, aber unser emotionales Leiden nicht beendet. Das größte Hindernis für Vergebung sind daher nicht mangelnde Einsicht und menschliche Schwäche, sondern ist ein falsches Verständnis davon, was Vergebung überhaupt meint.
Der Sinn von Vergebung ist, dass es uns selbst besser geht – nicht dem Täter
• Vergebung ist für Sie, nicht für den Täter.
• Vergebung gibt Ihnen die Macht über Ihre Gedanken und Ihren Schlaf wieder.
• Vergebung soll Ihre Verletzungen heilen, nicht die des Täters.
• Vergebung ist eine Fähigkeit, die man lernen kann.
• Vergebung ist eine Entscheidung, die Sie treffen.
• Jeder kann lernen, zu vergeben.
Jeder kann lernen, zu vergeben? „Ich kann diesem Menschen sicher nie in meinem Leben vergeben für das, was er mir angetan hat. Ich bin noch nie so belogen, betrogen und hintergangen worden“ – das mag vielleicht Ihr spontaner Reflex sein. Entscheidend ist, zu verstehen, dass uns Versöhnung zwei unterschiedliche Möglichkeiten eröffnet. Versöhnung kann das Ziel haben, mit einem Menschen, der uns belogen, betrogen oder noch Schlimmeres angetan hat, wieder eine tragfähige menschliche Beziehung zu erreichen, ja vielleicht sogar wieder mit ihm zusammenzukommen. Vergebung heißt aber in jedem Fall, dass wir uns mit einem schmerzlichen Teil unserer Vergangenheit selbst versöhnen und den Täter dafür nicht länger verantwortlich machen, wenn wir in der Gegenwart noch immer leiden – das geht aber auch, ohne je wieder Kontakt mit ihm zu haben.
Das „Stanford University Forgiveness Project“ hat in zwei ausgedehnten Studien bewiesen, dass selbst Mütter aus Nordirland, deren Männer, Söhne und Töchter von der jeweils anderen Seite getötet, gefoltert und missbraucht wurden, ihr Leid und die damit verbundenen Probleme durch Vergebung deutlich reduzieren konnten. Und es gibt wohl nichts Schlimmeres als den Verlust eines eigenen Kindes.
Warum ich?
„Ich gehöre zu denen, die aus dieser Erfahrung viel Kraft für einen neuen Anfang schöpfen konnten. Ich habe dabei aber auch Frauen, Männer, Geschwister und Beziehungen kennenlernen dürfen und beobachten
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