Der verletzte Mensch (German Edition)
müssen, die über viele Jahre, manche sogar für den Rest ihres Lebens, unter einer solchen Zäsur leiden oder sogar daran zerbrechen. Es ist eine Zäsur, denn es wird nur mehr ein Leben ‚davor‘ und eines ‚danach‘ geben. Es ist sozusagen der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Ihr Leben wird danach in jedem Fall anders sein als vorher. Wie es sein wird, hängt entscheidend von Ihnen selbst ab.“
Das ist das Statement am Ende eines der schmerzvollsten Leidenswege, den ein Mensch durchmachen musste. Am Anfang steht immer die Konfrontation mit einer tragischen Nachricht. Die Diagnose einer Krankheit, die das eigene Leben oder das eines geliebten Menschen bedroht. Die Verweigerung und die Auflehnung gegen das Urteil manifestieren sich dann in der Frage: „Warum gerade ich, wie habe ich das verdient?“ Bei Karin Exner-Wöhrer war es die Frühgeburt ihrer Tochter Anabel, die mit 540 Gramm auf die Welt gekommen war, was dem Gewicht von zwei Dosen Coca-Cola entspricht. Für Anabel beginnt vom ersten Herzschlag an ein Kampf ums Überleben, mit kurzen Phasen der Hoffnung, die dann wieder durch umso schlimmere Rückschläge zerstört werden.
Nach fast zehn Wochen büßt Anabel ihr noch so junges Leben ein, und ein Vater und eine Mutter verlieren ihr erstes gemeinsames Kind. „Du hast in den fast zehn Wochen mehr ertragen als die meisten von uns in ihrem ganzen Leben. Du hast es tapfer und mit unglaublichem Kampfgeist durchgestanden. Meinen größten Respekt. Du hast uns viel gelehrt, Dinge, die kein Weiser uns je hätte lehren können. Dafür bin ich dir unendlich dankbar.“ Mit diesen Worten verabschiedet Karin Exner-Wöhrer ihre Tochter. Sie hat ihre Erfahrungen in dem ungemein berührenden Buch „So zart und doch so stark“ [15] verarbeitet, in dem sie weder sich selbst noch andere schont. Die Ehrlichkeit, mit der sie über ihre Gefühle schreibt, macht manchmal Angst und doch berührt sie. Nur eines fehlt in diesem Buch völlig: Selbstmitleid. Obwohl der Verlust des eigenen Kindes das Schlimmste ist, was einer Mutter passieren kann – die meisten würden wahrscheinlich gerne das eigene Leben für das ihres Kindes geben –, zeigt uns Karin Exner-Wöhrer, dass es immer einen Neuanfang geben kann. Und wir lernen aus ihrer Geschichte, wie relativ unser eigenes Leiden ist, egal was wir durchgemacht haben. Das macht es nicht besser, aber wir sollten trotzdem manchmal daran denken, dass wir weder die Ersten noch die Einzigen sind, die etwas Unvorstellbares erleben müssen. Nicht einmal große Weltstars bleiben verschont.
„Hör mir zu, Paula, ich werde dir eine Geschichte erzählen, damit du, wenn du erwachst, nicht gar so verloren bist.“ [16] So beginnt Isabel Allende die Geschichte über ihre Tochter Paula, die im Dezember 1991 plötzlich von einer heimtückischen Stoffwechselerkrankung niedergeworfen wurde, ins Koma fiel und später auch verstarb. „Die Erfahrung mit Paula hat mich ein Jahr lang völlig blockiert. Das Einzige, was man tun kann, ist, die Hand zu halten und mitzufühlen. Schreiben ist meine Art, meine Wunden zu heilen.“ Isabel Allende erzählt mir von einer kambodschanischen Frau, deren ganze Familie ausgerottet wurde. „Sie bewältigte die unfassbaren Grausamkeiten, die sie erlebt hatte, dadurch, dass sie beim Schreiben ihre tatsächliche Geschichte ins Positive veränderte. Ihre Schwester, die in Wahrheit verhungert ist, wird dann zum dicken Mädchen. Die Mutter, die in totaler Armut lebte, trägt dann einen Rubin. Die getrennten Eltern finden wieder zusammen. Schreiben und Erzählen haben einfach eine heilende Wirkung auf uns selbst.“ [17]
Versöhnung ist immer möglich – sagt die Forschung
Fred Luskin ist Direktor des „Stanford University Forgiveness Project“ [18] und hat die Wirksamkeit seines Konzepts der Vergebung in eigenen empirischen Studien, die mit den Mitteln einer der besten Universitäten der Welt durchgeführt wurden, bestätigen können. Ich möchte Ihnen die Ergebnisse dieses Projekts in kompakter Form anbieten, weil es bisher das größte auf der Welt zum Thema Vergebung ist. Das Konzept macht klar, dass Vergebung keine spirituelle oder gar esoterische Geisteshaltung für eine kleine Minderheit besonders gutherziger und weiser Menschen ist, sondern ein sehr pragmatischer Prozess, der nachweisbar zu größerer psychischer, aber auch physischer Gesundheit führt. Rund 50 ähnliche Untersuchungen in den USA im Rahmen der „Vergebensforschung“, zu deren
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