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Der verletzte Mensch (German Edition)

Der verletzte Mensch (German Edition)

Titel: Der verletzte Mensch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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Vergeben oder sofort Sterben stellen würde.
    Auch in diesem Fall würde wohl nur ein Fanatiker sein Leben geben. Sie können dieses Spiel beliebig weiterspielen, etwa, dass Sie den Traumpartner für Ihr Leben nur dann finden, wenn Sie davor den Betrug eines anderen verzeihen. Das heißt aber, unabhängig von diesen Angeboten, dass es offensichtlich eine Frage der Gegenleistung ist, ob wir bereit sind, das Beharren auf unserer Leidensgeschichte gegen etwas anderes zu tauschen. Es ist also nicht eine Frage des Prinzips, sondern eine Frage der Motivation.
    Vergebung ist die Entscheidung, unsere Leidensgeschichte, die wir hartnäckig verteidigt haben, gegen etwas anderes zu tauschen. Vergebung ist die Erkenntnis, dass wir nicht die Macht haben, die Vergangenheit zu ändern, wohl aber unsere Gegenwart. Egal wie tief, egal wie oft wir verletzt wurden, wir können lernen, uns nicht als ohnmächtige Opfer zu fühlen, sondern die Verantwortung für unsere Gefühle zu übernehmen. Das stellt kein Wunschdenken dar, sondern altes Wissen, das Bestandteil aller Weltreligionen ist und das in einer Vielzahl von Studien bestätigt wurde. Auch die Gehirnforschung belegt eindeutig, dass wir lernen können, unsere Gefühle zu beeinflussen. Für manche Menschen erscheint es sogar noch härter, sich selbst zu vergeben, als einem anderen zu verzeihen. Im Prinzip gelten die gleichen Grundsätze, mit dem Vorteil, dass sie bei der Selbstvergebung auch einen ganz wesentlichen Einfluss auf das Verhalten des Täters, nämlich ihr eigenes, haben. Ich möchte Ihnen den für mich entscheidenden Punkt der Lehren zum Thema Versöhnung darstellen. Es ist die einfache Frage, wer die Hauptrolle in Ihrer Leidensgeschichte spielt.
    Vom Nebendarsteller zum Hauptdarsteller
    Wenn wir jemandem zuhören, der seine Leidensgeschichte erzählt, ist ganz klar, wer die Hauptrolle hat. Es ist immer der Betrüger, die Schlange, der Schurke, die Schlampe, der Lügner, der Gewalttäter, der Mistkerl … In allen Details wird der Charakter des Täters beschrieben. Derjenige, der die Geschichte erzählt, ist immer das Opfer und damit der Verlierer in der Geschichte. Hören wir dagegen die Geschichte eines Menschen, der sich mit sich und seinem Leiden versöhnt hat, dann ist er selbst die Hauptfigur, die Verletzung selbst wird zum Teil der Geschichte, zum Anlass, sich zu verändern und zu lernen. Der Täter wird zu einer bösen Randfigur oder sogar zu jemandem, der den Veränderungsprozess ausgelöst hat, zwar mit nicht zu rechtfertigenden Mitteln, aber eben doch. In allen guten Geschichten spielen die Helden die Hauptrolle und die Täter die Nebenrolle. In Leidensgeschichten verhält sich das umgekehrt.
    Das wichtigste Ziel des Vergebensprozesses ist, langsam zu lernen, anderen unsere Leidensgeschichte neu zu erzählen, und zwar mit uns als Hauptdarsteller und nicht als Opfer. Die schlimmste körperliche Verletzung, die mir jemand in meinem Leben bisher zugefügt hat, stammte von einem Piloten, der die Verantwortung für den Absturz eines Privatflugzeuges trug, dessen Passagier ich zusammen mit einigen Freunden war. Der Pilot war eindeutig schuld und wurde auch verurteilt, vor allem weil meine damalige Partnerin bei dem Absturz schwer verwundet wurde. Obwohl ich selbst nur knapp dem Tode entgangen bin und bis heute an Rückenbeschwerden leide, habe ich keine Probleme, die Geschichte zu erzählen und hege keine negativen Gefühle gegen den Piloten. Die Antwort ist ganz einfach. Es gelang mir, einige Mitreisende nach dem Absturz zu retten und daher war ich in der Öffentlichkeit, bevor ich selbst überhaupt noch darüber nachdenken konnte, der Held und nicht das Opfer. Meine Heldengeschichte war schon geschrieben, bevor ich in eine Leidensgeschichte versinken konnte. Es gibt im Gegensatz zu dieser objektiv sicher schwersten Verletzung meines Lebens andere, mit denen ich viel länger kämpfen musste, obwohl sie unbedeutender waren. Immer wenn ich mich als hilfloses Opfer sah und in Selbstmitleid versank, beherrschten mich Wut, Enttäuschung und Rachegefühle, die meine Aufmerksamkeit von viel wichtigeren Dingen abzogen. Das hängt auch damit zusammen, dass es umso schwieriger ist, aus der Negativschleife herauszukommen, je näher uns die Menschen, die uns verletzt haben, standen. Es wird also im Regelfall einfacher sein, einem unbekannten Autofahrer zu vergeben, der uns schwer verletzt hat, als unserem Partner, der uns betrogen hat. Wir haben dafür einen wichtigen

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