Der Verlobte
hinzu.
»Karl-Gunter, musst du hier rauchen?«, fragte die Großmutter spitz. »Du weißt, dass ich das gar nicht schätze!«
Der Großvater ignorierte ihren Einwand und beobachtete Onkel Leopold, der jetzt langsam vom Fenster herüberkam. »Hast du es ihr gesagt, mein Sohn?«
Onkel Leopold schüttelte den Kopf. »Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit«, sagte er.
»Dann ist sie jetzt da, die Gelegenheit«, erklärte der Großvater. »Ludmilla, unsere Tochter Liselotte …«
»Ja?« Die Großmutter legte den Kopf schräg.
»Liselotte ist ebenfalls tot«, sagte der Großvater.
»Oh«, sagte die Großmutter tonlos.
»Ja«, bestätigte der Großvater. »Sie ist in der Badewanne ertrunken, ein tragischer Unfall.«
»Moment mal!«, rief Tillmann dazwischen.
»Es war ein tragischer Unfall«, sagte der Großvater energisch. »Sie ist eingenickt und ins Badewasser gerutscht. Punktum.« Er legte seine Zigarre mitten in einer Schale voller Erdnüsse ab; vermutlich, damit sie ihr Dasein würdevoll aushauchen konnte.
Argwöhnisch blickte Tillmann von einem zum anderen.
»Nun.« Die Großmutter räusperte sich vernehmlich. »Wir sollten jetzt das Abendessen einnehmen. Schließlich haben wir Besuch.«
Onkel Leopold hüstelte. »Ich habe eine dringende Bitte an euch«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass Clara von diesen, diesen … Todesfällen erfährt. Sie ist einfach noch nicht stabil genug für so viel psychischen Druck.« Er blickte eindringlich in die kleine Runde. »Also, bitte kein Wort davon zu ihr oder in ihrer Gegenwart!«
Unheimlichkeiten und ein Überfall
Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend nahm Tillmann an der reich gedeckten Abendtafel Platz. Das Gewitter hatte sich gelegt, doch ein unermüdlicher Wind peitschte weiterhin den Regen an die großen Fenster. Strom gab es offenbar immer noch nicht. Der Raum war ausschließlich von Kerzen erhellt. Lautlos tanzten Schatten an der Wand.
Tillmann rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Wo blieben nur Lilly und ihre Tante Clara?
Er sah, wie Onkel Leopold das Briefkuvert von Tante Lilos Gedeck nahm und sich auf seinen Platz setzte. Elisabeth hatte ihr Make-up aufgefrischt, klammerte sich an ein Aperitifglas und blickte gedankenverloren vor sich hin. Bert redete leise auf seine Großmutter ein.
Mama-Lou prostete Tillmann lächelnd mit einem Martini zu. In der anderen Hand hielt sie einen Briefumschlag auf dem Schoß. Dann beugte sie sich verschwörerisch zu ihm herüber.
»Psst, Försterchen!«, zischte sie und schob den Brief über Lillys freien Stuhl zu ihm hin. »Kannst du den für mich aufbewahren?«
»Wo ist Lilly?«, flüsterte Tillmann ihr zu.
»Was gibt ’ s denn da zu tuscheln, Louise?« Die Großmutter klang streng.
»Prost, Mutter!«, sagte Mama-Lou fröhlich. »Cincin!«
Schnell nahm Tillmann den Brief an sich und ließ ihn in der Tasche seines Jacketts verschwinden.
In diesem Moment betraten Lilly und Clara den Speiseraum. Tillmann staunte. Lilly trug ein langes schwarzes Abendkleid und hatte ihre widerspenstigen Locken hochgesteckt. An ihren Ohrläppchen fingen glitzernde Steinchen das Kerzenlicht ein. Auch Clara war elegant gekleidet, allerdings sehr viel farbenfroher als Lilly.
»Mädels, ihr seht toll aus!« Bert grinste schief.
Als Tillmann Lilly den Stuhl zurechtschob, würdigte sie ihn keines Blickes. Was hatte sie nur? Hatte er sie irgendwie verärgert? Er hatte sich doch an ihre Abmachung gehalten, obwohl das schwerfiel angesichts der Situation. Oder stand sie vielleicht noch immer unter Medikamenteneinfluss?
»Ach, es ist ja so herrlich, hier zu sein!«, rief Clara aus. »Ich freue mich so, euch alle – Nanu?« Sie warf einen feurigen Blick in die lückenhafte Tafelrunde. »Wo sind die denn alle?«
»Nun, sie sind gewissermaßen verhindert«, sagte die Großmutter gemessen. »Ein paar kleinere Zwischenfälle.«
Tillmann spitzte die Ohren. Er war gespannt, wie sie dieser total verwirrten Clara die dramatischen Ereignisse beibringen wollte.
»Was denn für Zwischenfälle?« Claras Stimme klang schrill.
»Kein Grund zur Beunruhigung«, beschwichtigte Onkel Leopold eilig.
»Wo ist denn Veronika?«, fragte Clara. »Ich habe sie noch gar nicht gesehen?«
»Oh, ein Asthmaanfall«, erklärte die Großmutter. »Sie hat sich gleich heute Morgen hingelegt.«
So konnte man das natürlich auch ausdrücken. Neugierig beobachtete Tillmann die Anwesenden.
»Und dein Patenkind? Wie hieß er noch gleich?«, bohrte Clara
Weitere Kostenlose Bücher