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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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flachen Kuppe stand die alte Fokklin-Mühle. Sie drehte ihre weißbefokkten Flügelarme rüstig in den Himmel   – in ein nur wenig anheimelndes Firmament, das jetzt eine einzige Ballung aus grauen Wolken war. Ein kräftiger Nordwest pfiff jenseits der Häuser über die Stoppelfelder. Finn war dankbar für seinen wieder vollständig getrockneten, wärmeren Mantel. Er zog die Kapuze um seine Schultern zurecht   – der kalte Wind vertrieb ihm dennoch im Nu jeden Rest von Schläfrigkeit.
    Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie den Grenzstein erreichten: eine mächtige, behauene, schneeweiße, vierkantige Stele vondoppelter Menschenhöhe. Soweit sich Finn an Herrn Ludowigs Geschichtsstunden erinnerte, hatte sie schon an dieser Stelle gestanden, als die ersten Vahits ankamen und das verlassene Hüggelland erkundeten.
    Die Mittelstraße führte unmittelbar an dem Gemarkstein vorbei. Etwas, das zu den Füßen der Stele gelegen hätte, wäre einem jedem vorbeikommenden Reisenden ins Auge gefallen. Die kreisrunde Platte aus Caeraban, auf der die Stele stand, war nämlich frei von Moosen oder auch nur Rissen, in die sich Wurzeln hätten graben können. Der Wind hatte alle Blätter fortgefegt. Der ganze Ort wirkte auf Finn mehr wie eine Weihestätte denn eine einfache Grenzmarkierung.
    Der aus der Böschung aufragende Stein zog unwillkürlich die Blicke auf sich, und jemand hätte blind sein müssen, um eine dort liegende Tassel nicht zu bemerken. Insofern war Herrn Winnegs Geschichte glaubhaft und nachvollziehbar. Die vier glatten, erhabenen Seiten des Steins waren nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet. Auf ihnen glitzerten altertümliche silberne Caeredwaine-Schriftzeichen, die in den Stein eingelassen waren. Trotz ihres Alters waren sie kaum verwittert. Die Schrift ihrerseits wurde von klaren, geschwungenen Linien umflossen, die wie silberne Wellen anmuteten.

    Seyhet gewis
    bis zu diser
    Taremark
    meyne Hand wol reychet
    So lasen sie auf der östlichen Seite. Ihr gegenüber stand:

    Gehst du weyter
    gilt Benutcaers Recht
    Im Norden fanden sie die Worte:

    G egeben dem Volk
    zur Ehre der Benethnin
    und im Süden die Inschrift:

    Hirdalbal Tener
    Vahene 135.
    Das war alles. Es gab keine weiteren Zeichen, auch keine Abbildungen: keine Krone, keine Sterne, keine Pfeile, nichts.
    »Das ist nicht euer Grenzstein«, rief der Mönch verblüfft.
    »Na ja, ich nehme an, er stand einfach nur passend da seinerzeit«, vermutete Finn. »Ich will sagen: Da er sich nun einmal hier befand und zweifellos ein Gemarkstein ist, wurde die Gaugrenze einfach durch ihn hindurch gezogen, wenn du verstehst, was ich meine. Jedenfalls stehen wir beide noch im Obergau, und Inku spielt schon im Mittelgau.« Als der Welpe seinen Namen hörte, zog er seinen Kopf aus einem Gebüsch hervor und kam zu Finn zurückgerannt.
    »Kannst du es auch spüren?«, fragte Circendil leise. Fast zögerlich legte er seine Hand an die Stele. »Viel Zeit ist über diesen Stein hinweggegangen. Wer wohl alles an ihm vorbeigekommen sein mag? Zum Wohle oder Übel   … Das ist etwas, um das ich vieles geben würde, Finn. Wäre es mir nur vergönnt, die Sprache der Steine zu verstehen.«
    »Die Sprache der Steine?«, fragte Finn zweifelnd. »Das meinst du nicht ernst, oder?«
    Circendil schüttelte den Kopf. »Oh, durchaus. Sie können reden, nur nicht auf unsere Weise. Sie überdauern Jahr um Jahr, und alles, was ihnen widerfährt, bewahren sie in ihrem langen Gedächtnis. Den sanften Mairegen, den Sturm des Herbstes, die glutende Sonne des Sommers und den klirrenden Frost der schneegekrönten Tage. Sie sehen die Jahre der Menschen kommen und gehen, wie wir vielleicht die Minuten. Aber sie nehmen sie wahr, mit Sinnen, die wir nicht verstehen. In den Steinen schläft Amans Seele, so lehren wir es den Nérenirin, den Novizen unseres Ordens, in Andor Daven. Sie schläft, aber sie ist gegenwärtig. In den Bäumen und Gräsern träumt sie, in den Tieren erwacht sie und in den kogoin erkennt sie sich wieder, aufgespalten in unzählige Lichter, wie Gischt versprüht, als habe ein Meer beschlossen, nicht länger Meer, sondern nur noch Tropfen zu sein. Diese Tropfen verteilen sich, und ihre Zahl ist größer als die der Sterne. Nun ja«, unterbrach er sich und lachte augenzwinkernd, »soweit die Lehre Davens. Ich will gerecht sein   – mir sind unterwegs auf meinen Fahrten durchaus einige begegnet, die standhaft versuchten, es im Schlafen den Steinen gleichzutun oder sie gar zu

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