Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
herzugeben. Mit Wonne begann er, darauf herumzukauen.
»Jedenfalls hat unser kleiner Freund es hier in der Nähe desSteins entdeckt«, sagte Circendil. »Ein Riemen vom Sattelzeug eines Criargs und eine Tassel. Seltsam. Wir werden dieses Rätsel nicht lösen können. Jedenfalls jetzt noch nicht und vielleicht überhaupt niemals. Aber ich glaube nicht an Zufälle, wie du weißt. Wenn zwei Dinge zeitnah an demselben Ort gefunden werden, dann spricht einiges dafür, dass sie in einer Verbindung stehen. Und schon will mir alles, was mir dazu einfällt, nicht im Mindesten gefallen. Aber ich will nicht schwarzmalen. Komm jetzt, Finn, und Kopf hoch! Es mag einen Zusammenhang geben, aber alles kann auch ganz anders sein. Wir werden sehen. Lass uns deine Verwandten suchen.«
Inzwischen war es heller und heller geworden, doch die Sonne, obwohl sie mittlerweile den Rand des Sturzes erklommen hatte, verbarg ihr Gesicht hinter dichten Wolken, die auch der Wind nicht vertreiben konnte. Das gestern noch so bunte Laub an den Bäumen schien unter dem trüben Grau alle Farben verloren zu haben. Der Wind riss an den Ästen und schüttelte sie; die ersten Blätter lösten sich bereits und wirbelten davon.
Während Finn und Circendil die ansteigende Straße hinanstiegen, meinten sie, einen großen Vogel hoch droben am Himmel zu sehen, der sich eilends der Mühle näherte; doch als der dunkle Punkt näherkam, löste er sich auf: in einen weiteren Schwarm wilder Gänse, die in Richtung des Sturzes flogen. Aufgeregt schnatternd überquerten sie die Mittelstraße, und Finn fragte sich, ob sie von ihren eigenen Angelegenheiten genauso verwirrt waren wie er selbst von denen der Vahits und Menschen.
Zurück im Dorf forderten sie den wachhabenden Vahit auf, sich ihnen anzuschließen. Sein Name war Ufan Fischreih, erfuhren sie, und er gehörte zu den Wasserfelder Vahits, die erst am späten Abend angekommen waren.
»Das ist schade«, sagte Finn. Er bemerkte den verwunderten Blick Ufans und fügte erklärend hinzu: »Ich hoffte, du könntest mir vielleicht Auskunft geben. Ich suche das Haus der Familie von Dúncan Zeisig; aber da du aus Wasserfels stammst und …«
»Wenn es nur das ist«, fiel ihm Ufan ins Wort. »Da kann ich dir helfen. Es ist das dritte Haus zur Rechten, die westliche Gaustraße hinauf.« Er grinste schelmenhaft. »Oder das dritte Haus zu deiner Linken. Solltest du die Gaustraße herab kommen. Es stehen dort genau fünf Häuser. Das, welches du suchst, ist das mittlere.«
»Aha«, machte Finn erstaunt. »Woher kennst du dich als Wasserfelder in Vierstraß so gut aus?«
Ufan winkte ab. »Meinem Großvater Lachlan gehörte das Haus Nr. 4. Ich bin dort geboren, musst du wissen. Im Hundertjahr sind wir nach Wasserfels gezogen, weil Opa meinte, er brauche eine Veränderung. In Wahrheit machte ihm der Wind sehr zu schaffen, der hier beständig weht. Zu den Zeisigs also willst du? Dort vorn ist es schon, das mit dem großen Rosenstock davor. Grüß Herrn Dúncan und Dharso von mir.« Sprach’s und nahm die Straße rechts zum Wirtshaus hinunter, während Finn und Circendil an der Kreuzung nach links hinaufgingen.
Das schiefe Haus der Zeisigs stützte den von Ufan erwähnten Rosenstock, vielleicht stützten sie sich aber auch gegenseitig; das Haus befand sich in keinem guten Zustand. Es gab unübersehbare Anzeichen von zu lange aufgeschobenen Ausbesserungsarbeiten.
Sie schritten durch einen ungepflegten Garten und klopften. Dúncans Sohn Dharso öffnete ihnen und stand verschlafen auf der Türschwelle; Finn sprach mit seinem Vetter und brachte seine Warnung vor.
Allerdings bezweifelte Finn, ob es am Ende überhaupt etwas genutzt hatte, sie auszusprechen – der alte Zwist zwischen den Muldweiler- und den Moorreet-Fokklins gärte nach all den Jahren offenbar noch immer. Auch die Einladung zu Finns Geburtstagsfest hatte daran nichts geändert.
Immerhin, die beiden jungen Verwandten redeten mehr oderweniger höflich miteinander. Dennoch wurden die frühen Besucher nicht hereingebeten, und der junge Zeisigsohn vermochte auch einige Spitzen nicht zu unterdrücken. Es blieb offen, ob Dharso dem Dräuen von Krieg und Gefahr auch nur den geringsten Glauben schenkte. Circendil gegenüber zeigte er, von abweisendem Misstrauen abgesehen, kaum eine Regung.
Als sie einige Minuten später zum Wirtshaus zurückgingen, schüttelte Finn betroffen den Kopf. «Hoffentlich unternimmt er wenigstens das Notwendige, um seine Familie und
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