Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
winkte er den Wirt an seine Seite und sagte: »Nehmt mir meine Worte nicht übel, Schankherr. Ich sprach unwirsch, was sich nicht geziemt, wenngleich durch Höflichkeit die heranziehende Not nicht gebannt werden kann. Und sie ist wahrlich weitaus näher, als Ihr zu denken scheint. Große Sorgen begleiten uns, seit Tagen schon, und selbst ich beginne, darüber müde zu werden – und die kleineren Sorgen zu übersehen. Gewiss habt Ihr ein Feuer brennen, selbst zu dieser Stunde? Schürt es bitte tüchtig, damit wir daran unsere klammen Sachen trocknen können, wenn Ihr so gut sein wollt.«
Timan Kowal entfaltete in der nächsten halben Stunde eine hektische, aber gleichwohl überlegte Betriebsamkeit. Er weckte die Hausgehilfen der Taumelnden Mühle und teilte sie mit raschen Worten ein: Einer hatte für die Ponys der Neuangekommenen zu sorgen; einer sollte vier Strohlager aufschütten; ein weiterer bekam den Auftrag, umgehend ein Viertel der schnarchenden Vahitschar zu wecken und sie mit Fackeln oder Lampen auszustatten. Er selbst nahm sich die schlaftrunken murrenden Vahits vor, versorgte sie mit Circendils Ratschlägen und beorderte einen jeden von ihnen an seinen Platz. Dann kam er in die Scheune nach. Er erbat die feuchten Kleider der Gefährten und bot an, alles vor dem großen Kamin im Schankraum aufzuspannen, in dem inzwischen ein kräftiges Feuer prassele – bis zum Morgen sei alles trocken, versprach er. Als er später mit einem Tablett mit Krug und Bechern zurückkam, brachte er einen gefüllten Napf für Inku mit und wünschte seinen Gästen eine verspätete gute Nacht.
Die schliefen längst, als er sich auf leisen Sohlen entfernte.
In dieser kurzen Nacht träumte Finn, er liefe durch einen nebligen Wald und riefe dabei immerfort Tallias Namen. Hinter jedem dicken Stamm glaubte er sie zu entdecken. Doch er fand nur ihre Spuren im Moos, die nirgendwohin führten, oder zu Lichtungen, auf denen bergeweise Dwargeneisen herumlag: tausenderlei Helme, Schwerter und Äxte. Auf jedem dieser metallenen Hügel hockte ein Gidrog und drehte einen Spieß über einem Feuer, von dem das Bratenfett zischend in die Flammen tropfte; und als Finn schaute, gewahrte er, dass es kleine vierbeinige Tiere waren, die zappelnd an den Spießen hingen: Das Fell hatte man ihnen bei lebendigem Leibe abgezogen, doch noch immer lebten sie und jaulten erbärmlich, während die Flammen an ihnen leckten. Die Felle hatten die Gidrogs achtlos fortgeworfen; nur bei dem letzten Lagerfeuer, an das Finn gelangte, war dies anders. Hier hielt der Gidrog die Deckhaut des Tieres vor sich hin und drehte und wendete sie im Feuerschein. Er betrachtete sie zufrieden, wie ein Stück Beute, und Finn erkannte zu seinem Entsetzen Inkus Flecken darauf. Finn wollte Maúrgin ziehen und sich auf den Gidrog stürzen, doch die Klinge war nicht mehr an seiner Seite, und während er noch darüber erschrak, sah er Saisárasar hinter einem Baum hervortreten, und der Mensch hielt Tallia fest in seinem Arm. Er winkte Finn mit der anderen Hand zu und rief: Komm her, es ist Essenzeit. Ein Karbeol glühte anstelle des verletzten Auges in Saisárasars Gesicht, und in seinem Schein entdeckte Finn zehn oder mehr Criargs, deren gierige, krumme Schnäbel hinter dem Dunklen aus dem Unterholz erwuchsen. Du musst dich entscheiden , sagte Saisárasar, während Tallia hilflos in seinem erbarmungslosen Griff zappelte. Was willst du essen? Hunde- oder Mädchenfleisch?
Als Finn ein leises Ich esse kein Fleisch von sich gab, erntete er ein brüllendes Gelächter Saisárasars, in das der Gidrog grunzend einfiel. Nun, die hier schon , hörte er noch, bevor Tallias Schreie alles übertönten, als die hackenden Schnäbel über sie herfielen. Blut spritzte auf und benetzte ihn. Finn wollte sich bewegen und konnte es plötzlich nicht mehr. Er sah an sich herunter. Seine Unterschenkel waren auf einmal von einem schwarzen Mantelumwickelt, den er nicht abzustreifen vermochte, denn eine blutverschmierte Tassel hielt das Tuch eisern zusammen. In einem letzten verzweifelten Aufbäumen stürzte er hin und fiel – ein Ewigkeit, wie ihm schien, bis er endlich auf dem Waldboden aufschlug. Festes Riedgras stand dort und stach in sein Gesicht. Er wischte die Halme fort und fühlte dabei, wie Tränen über Tallias und Inkus Tod seine Wangen nässten.
Es war diese Feuchtigkeit, die ihn aufschrecken ließ. Zuerst dachte er, Inku habe sich irgendwie vom Drehspieß des Gidrog befreien können und
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