Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
sich zu schützen.«
»Besser schützt er gleich das Hüggelland«, antwortete Circendil. »In Mechellinde benötigen sie einen jeden jungen Vahit, der einen Bogen spannen kann. Und viel Zeit haben sie nicht. Nicht mehr, wie mein Herz mir sagt. Darum komm. Auch wir sollten uns besser eilen, soweit das bei euch Vahits überhaupt möglich ist.«
Es war nicht möglich, zumindest nicht sofort. In der Taumelnden Mühle ging es inzwischen nämlich überaus lebhaft zu. Die von Circendil eben noch geforderte Eile verlor sich zusehends zwischen Tellergeklappere und laut geführten Tischgesprächen. Die Schläfer waren erwacht, und Timan Kowal hatte, sehr zu Ufans Freude, für alle Gäste ein reichhaltiges Frühstück herrichten lassen. Circendils Erscheinen löste allgemeines Erstaunen und sperrangelweit aufgerissene Mäuler aus, aber noch ehe überhaupt die ersten Fragen gestellt werden konnten, schwang sich Mellow kurzerhand auf einen Tisch und übernahm, wie er sich ausdrückte, als Helvogt den Befehl über »die hiesige Freiwilligenabteilung der Vahitwehr«.
Mellow schilderte eindringlich, was sie in der Nacht im Furtlerbroch vorgefunden hatten. Bhremo Kannin war manchen bekannt gewesen und sein Tod rief stille Betroffenheit hervor. Mellow schärfte den atemlos lauschenden Vahits vor allem deutlich ein, dass jederzeit ein Angriff des Feindes erfolgen könne. Dasnahe Räuschelfurt sei schon zum erklärten Ziel des Feindes geworden. »Wehe, wenn sie die Furt erst besetzen!«, rief er. »Sobald sie den Übergang halten, schneiden sie den größten Teil des Obergaus vom Rest des Hüggellandes ab!«
Aufgeregtes Gerede machte ihm jedes weitere Wort unmöglich.
Da stand Circendil auf und bat gestreng um Ruhe. Stehend überragte er immer noch Mellow mitsamt seinem Hut. Fast berührte sein Scheitel die Decke. Der Mönch zog sein Schwert und stieß es dröhnend in die Diele.
Das Stimmengewirr verstummte jäh.
»So ist es besser!«, lächelte er grimmig und stützte sich auf seine Waffe.
Timan, der Wirt, runzelte die Stirn ob des misshandelten Dielenbretts. Circendil sah es und nickte. »Ja,« sagte er. »So beginnt es. Schwerter werden niederfahren, und am Ende brennen ganze Dörfer. Ihr habt von Rudenforst gehört? Gut. Dann lasst die Narbe meiner Schneide an diesem Haus euer Mahnzeichen sein. Denn wehe den Vahits, und wehe dem ganzen Hüggelland!«
Schon jetzt, fuhr er fort, schon während sie hier säßen und redeten, könne Räuschelfurt längst in die Hand des Feindes gefallen sein. Der Davenmönch beschrieb den Vahits die Gidrogs und ihre grausamen Vögel. Er warnte sie vor ihren Anführern und beschrieb ihnen Saisárasar und Guan Lu, den Ledir. Er riet dringend zur Vorsicht. Und mahnte dennoch zu allerhöchster Eile.
»Nur einige wenige von euch«, schlug er vor, »nur zwei oder drei, dürfen über die Furt hinaus weiter bis Mechellinde reiten, um dort die Helvogte zu benachrichtigen, die zusätzliche Hilfe senden werden.«
Die übrigen, empfahl er, sollten sich im Broch und den umliegenden Häusern verschanzen. Von dort aus konnten die fünf Bogenschützen unter ihnen die Straße sichern – solange sie Pfeile besaßen.
»Die Furt muss gehalten werden!«, wiederholte Circendil eindringlich. »Denn alle noch eintreffenden Vahitwehrler werden, wie auch die dringend benötigten Vorräte, genau diesen Weg nehmen müssen – über die Furt. Was Mellow sagte, ist leider nur allzu wahr. Fällt sie in Feindeshand, bleibt der Weg damit versperrt. Geschieht das, so hört das Hüggelland binnen weniger Tage auf zu sein. Und das Volk der Vahits wird bald darauf nur noch eine rasch verblassende Erinnerung in den Köpfen von hauergesichtigen Geschöpfen bilden. Sobald es nur irgend geht, wird aus Mechellinde Verstärkung dorthin entsandt werden. Darum müssen die Boten sich bis zur Bücherey durchschlagen. Dort werden ihnen die Helvogte sagen, was weiter geschehen wird.
Diejenigen unter euch, die in Räuschelfurt bleiben – denkt an die Räuschelfurter selbst. Sie sind geflohen, aber sie werden zurückkehren. Bietet ihnen Schutz, teilt eure Waffen mit ihnen. Am Ufer liegt Bhremo Kannins Fährkahn. Sein Boden ist zertrümmert, aber vielleicht könnt ihr die Löcher flicken. Die Zeit wird schon bald kommen, in der dieser Kahn dringend gebraucht wird. Doch für den Moment ist es wichtiger, den Broch zu halten. Erst der Broch, dann der Kahn! Bin ich verstanden worden? Gut.«
So hört meine Worte! Es ist dies der
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