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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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hergerichteten Stuhl. Er trug einen weiten Mantel, unter dem er sich beinahe verlor. Dennoch oder vielleicht gerade deswegenbildete er den Mittelpunkt eines Halbkreises, in dem alle übrigen Anwesenden ihn umstanden und still der Toten gedachten. Selbst die uralte Tessina, Bartolos Witwe, Finns Urgroßmutter, die am liebsten Muldwyrda genannt werden wollte, war anwesend: Sie lag, in Decken gehüllt, nahe Furgo in einer Sänfte, denn gehen konnte sie schon lange nicht mehr. Sie sind alle erschienen, dachte Finn, kaum jemand fehlte, von Amafilias Tante Terrinia einmal abgesehen, die mit Ludowig Gurler in Mechellinde verheiratet war.
    Ein seltsamer Schwebezustand hatte sich seiner bemächtigt, in dem Finn weder der eigenen Trauer noch seinem Schrecken über das Geschehene in irgendeiner Weise Ausdruck zu verleihen vermochte.
    Ich bin da und doch nicht da, dachte er benommen, während er über die Köpfe hinweg in die Wipfel hinaufsah und durch sie hindurch in einen bewölkten Himmel. Es sollte regnen, dachte er. Es ist nicht richtig. Auf so vielen Beerdigungen regnet es. Warum nicht auf dieser? Zürnten die Himmel dem Hüggelland? Wenn ja, weshalb? Und warum lassen sie es die Lebenden und die Toten spüren?
    Die Toten   – wohin gehen die Toten eigentlich? , fragte er sich. In dieses Grau aus nimmerrastenden Wolken dort oben? Sollen sie da die ewige Ruhe finden, von der die Weihesprecher in ihren Liedern sangen? Oder fuhren sie hinab in die dunklen Gefilde Kringerdes, der Gekrümmten? Immerhin bettete man die verblichenen Leiber in ihren Schoß. Wurden die Körper der Toten dann nicht wieder zu dem Lehm, in den man sie legte? Finn wurde mulmig bei dem Gedanken, dass eines Tages irgendwer eine Schaufel Lehm aus einer Grube heben würde, um damit die Wand eines Hauses zu bestreichen; und ebendieser Lehm war das   – war alles   –, was von seiner Mutter übrig geblieben war. Haftete dann nicht noch etwas von dem, was sie gewesen war, was ihr Wesen ausgemacht hatte, an den Krümeln in des Maurers Hand? Ging sie dann auf in der Wand eines Hauses, wurde sie zudiesem Haus? War das, dachte er erschrocken weiter, die Erklärung dafür, dass manche behaupteten, in ihren Gemächern ginge jemand um; eine spürbare Anwesenheit, ein unsichtbarer Geist, ein Baghul? Oder dafür, dass andere meinten, über bestimmten Häusern läge eine eigentümliche Stimmung, die der eines verstorbenen Verwandten gliche und der man sich nur entziehen konnte, indem man das Haus verließ?
    Wohin also gehen die Toten?
    Finn schluckte schwer, doch der Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wollte nicht weichen.
    Es schien ihm unmöglich, dass dort in der nässenden Grube seine Mutter liegen sollte. Ja, ihre Hülle vielleicht. Aber nicht das, was sie ausmacht, dachte er. Was sie aus machte , verbesserte er sich. Plötzliche Bilder von wimmelnden Würmern, die sich des auflösenden Fleisches annehmen würden, schüttelten ihn. Nein, diese Hülle, die bald vergehen würde, das war sie nicht. Aber was dann? Konnten Dahingegangene wiederkehren? Und wohin gingen sie dann? Konnten sie ein neues, besseres Dasein führen? Oder gab es für alle Lebewesen nur dieses eine, so allzu rasch, allzu leicht beendbare Leben; sei es durch Unachtsamkeit, Krankheit, das Alter oder gewaltsamen Tod?
    Kehrten die Seelen eines Tages von dort zurück, wohin immer sie gelangten, sobald sie das Leben durchschritten hatten? Oder gingen sie gar nicht fort, sondern weilten weiter auf Kringerdes Rücken, auf ewig unsichtbar, ein Flüstern vielleicht, das man dem Winde zuschrieb? Eben doch Baghule, die ihren Leichnam suchten? Und die, glaubte man den schlimmsten Geschichten, zu Bavruith, zu Untoten, werden konnten, sollten sie ihn jemals wiederfinden? Ich werde Circendil danach fragen müssen, nahm er sich fest vor. Später, wenn dies alles vorbei ist. Vielleicht kennen die Davena darauf eine Antwort. Vielleicht glaubten die Medhirin im fernen Vindland ja an jenen Einen, den sie Aman nennen, weil er in solchen Fragen zufriedenstellende Antworten gab.
    Dann sprangen seine Gedanken zurück in den Grabeshain undan den Rand der offenen Aldakévata, und ihm war plötzlich absonderlich zumute: als wäre er ein Fremder, der zufällig in eine fremde Beerdigung geraten war, wo er weder Verstorbene noch Trauernde kannte und darum seltsam unbeteiligt blieb. Weder vergoss er Tränen noch umfing ihn Verzweiflung. Dafür erschlug ihn fast der schwere, durchdringende Duft des

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