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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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verbrennenden Harzes, und er hörte überlaut das knarrende Wiegen der Wipfel im Wind.
    Finn und Mellow standen ganz still hinter den anderen und warteten.
    Wie lange sie dort standen, wusste er später nicht mehr. Neben den Stangen mit ihren Todesflammen beugten stumm die Träger ihre Häupter, dann traten sie in den Hintergrund. Finn nahm ihre Gesichter nicht einmal wahr.
    In seinen Gedanken war er mit einem Mal wieder zu Hause, kehrte zurück zu dem Tag vor knapp einer Woche, an dem alles begonnen hatte.
    Er saß an seinem Schreibtisch in Fokklinhand und spähte aus dem Fenster, sah seine Mutter noch einmal den Hof entlanggehen und den Wagen besteigen, einen Korb auf dem Arm. Und er sah abermals, wie sie seinen Blick bemerkte und ihm zulächelte. Diesen besonderen Augenblick, das schwor er sich, den wollte er im Gedächtnis verwahren. Eben so wollte er sie in liebevoller Erinnerung erhalten: angetan mit Schirm und Hut und Reisekleid. Als jemanden, der frohen Mutes auf Reisen gegangen war, nicht als eine Vahitfrau, die bei einem   – wie hatte Taram sich ausgedrückt?   – bei einem Überfall tödlich verletzt worden war.
    Die Weihesprecherin sang erneut, diesmal das Lied der Wahrheit, Hedhin Sahaya :

    Du warst mir im Leben
    das Eine, das nur durch dich
    geborn.

    D u gabst mir im Leben
    das Deine, worin du dich
    verlorn.

    Ein Mantel, geflochten aus Worten,
    deinem Herzen allein entsprang.

    Er wärmete mir meine Tage,
    im Stillen, alle Tage lang.

    So preise ich einen Namen:
    den Deinen ich mir
    erkorn.
    Stille senkte sich schwer auf den Grabeshain.
    Nur langsam löste sich die Traube der Trauernden auf. Dem alten Brauche nach gingen die Aarienheimer einzeln nacheinander am Grab vorbei und flüsterten der Toten das Eine zu, was ihnen am Wesen der Verstorbenen am wichtigsten erschienen war.
    Nach und nach schrumpfte die Versammlung. Fiongar und Ewerdarg trugen die Sänfte mit der Greisin fort. Als die Reihe der Verbliebenen nur noch wenige Vahits umfasste, erhob sich Furgo schwerfällig aus seinem Stuhl. Finn erkannte erleichtert, wie sich jemand bückte und ihm half. Es war niemand anderes als sein Vetter Wilhag, der an der Seite des Stuhles stand und ihn stützte. Stumm stellten sich Mellow und Finn neben ihn   – und damit am Ende der langsam vorrückenden Reihe an.
    Dann war es soweit. Mellow nahm seinen Hut ab und verneigte sich vor dem klaffenden Lehmloch. Finn sah die Lippen des Freundes sich bewegen, doch unhörbar blieben seine Worte.
    Als Finn nach Mellow an die Aldakévata trat, verspürte er einen heftigen Schwindel wie bei einer langen Erkältung, wenn das Fieber endlich nachließ. Er starrte auf einen strohbedeckten Holzkasten auf dem Grund der Grube herab; und er, der bis zudiesem Augenblick nicht gewusst hatte, was er seiner Mutter zum Abschied sagen sollte, flüsterte im Angesicht des Sarges ein   – ihn in plötzlicher Klarheit überkommendes   – Du ließest mich der sein, der ich bin! in den Wind.
    Er schob sich einen Schritt zur Seite, machte Platz für seinen Vater, auf dem alle Blicke ruhten. Furgo humpelte mühsam vor. Erst jetzt bemerkte Finn die Krücke unter der Schulter seines Vaters, auf die er sich mühsam und ungelenk stützte. Stramme Tücher pressten eine feste Schiene an sein rechtes Bein. Furgos linker Arm war von den Fingerspitzen bis über den Ellenbogen verbunden und hing in einer Schlinge. Nichts an ihm erinnerte in diesem Augenblick mehr an den so zähen und umtriebigen Meister und ehrenwerten Cuorderir der berühmten Werkstatt Fokklinhand. Klein und krumm und verlassen stand er da, fast schwankte er im Wind wie ein abgebrochener Zweig, der nur noch über wenige dünne Fasern mit dem Stamm verbunden ist.
    Furgo Fokklin blickte leer über die ausgehobene Grube hinweg.
    Sein Gesicht war grau und voller Falten, die Finn nie zuvor an ihm bemerkt hatte. Seine Lippen bewegten sich, doch so gering, dass man es kaum sah oder für eine Täuschung halten konnte. Langsam wandte er sich ab, bewegte das verletzte Bein wie ein nicht zu ihm gehörendes Etwas. Die Augen des Moorreeter Vahits unter den vom Wind verwirbelten Haaren schimmerten feucht. Ihr Blick fiel zum ersten Mal seit dessen Ankunft auf Finn, doch der fand in ihnen kein noch so geringes Anzeichen des Erkennens. Ausdruckslos blickten sie durch ihn hindurch, als bestünde er aus Luft oder sei gar nicht vorhanden. Vielleicht nahmen Furgos Augen den Sohn tatsächlich nicht wahr; vielleicht glitten sie einfach weiter,

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