Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
wie forttreibende Blätter auf einem namenlosen Strom. Falls Furgo etwas bemerkte, dann war es in diesen Minuten gewiss nicht von dieser Welt.
Noch einmal stimmte die Weihesprecherin das Lied der Wahrheit an, dieses Mal ohne Worte. Nur Ton und Klang schwebten unter den Bäumen und verloren sich im Seufzen des Windes.
Wilhag setzte den sonst so Unbeugsamen zurück auf seinen Stuhl. Als Finn die Hand ausstreckte, um seinen Vater gleichfalls zu stützen, schüttelte sein Vetter nur bittend den Kopf. Nicht jetzt! , bedeutete er ihm. Nicht hier!
Mit dem letzten verklingenden Ton der Hedhin Sahaya wardie Totenfeier vorüber.
Die Trauernden verließen den Grabeshain über die Brücke, schweigend und gemessenen Schrittes; und obwohl die meisten von ihnen Circendils hohe Gestalt bei den Ponys wohl bemerkten und sich einige der Köpfe verwundert nach ihm umdrehten, brach niemand das ehrfürchtige Schweigen. Wilhag hob zwei am Boden liegende Stangen auf, die Finn zuvor nicht einmal bemerkt hatte. Er schob sie durch an dem Stuhl befestigte Metallringe, zwei an jeder Seite, die den Sitz nunmehr in einen Tragestuhl verwandelten; dann griffen Bardogar und Wilhag vorn und hinten zu, hoben an und trugen Furgo von der Aldakévata fort.
Die Taubers und ihre Angehörigen warteten auf Furgo und gingen zuletzt.
Hinter ihnen packten jüngere Vahitburschen bereitliegende Schaufeln.
Mit kräftigen Schwüngen begannen sie, die beiseite aufgehäufte Erde in das Loch zu werfen. Für Finn war es dieses Geräusch, war es dieser Laut, dieses dumpf-dröhnende drumpfack!-drumpock! , mit dem die schwere, feuchte Erde auf die Sargbretter fiel, der ihm die Kehle zuschnürte. Es war das Fürchterlichste, was er je vernommen hatte; es kam ihm vor wie der überlaute Herzschlag von Kringerde selbst, der da aus diesem Loch im Boden heraufstieg und in seinen Ohren pochte; drumpock!-drumpfack!
Erst in diesem Moment begriff er mit allen Sinnen, was ihm genommen worden war.
Noch immer hielt er die Tassel mit dem Antlitz der Mutter umklammert, und ihre Ränder hatten sich in das Fleisch seinerHand gebohrt; doch erst jetzt fühlte er den davon ausgehenden, lähmenden Schmerz, der seinen Arm hinaufstieg wie ein kaltes Feuer, das alles löschte und verbrannte zugleich. Er zog die feuerrot angelaufene Hand mit der Tassel aus seiner Tasche und küsste das Abbild Amafilias; dann verbarg er die Mantelschließe tief in seinem Wams. Es war ein Überfall! Folglich gab es die Überfallenen einerseits und andererseits jene, die den Überfall verübt hatten.
Finn legte die schmerzende Hand auf den Karbeol. Sein Blick suchte den Mellows.
»Komm«, sagte Finn. »Wir haben mit jemandem ein zweites Mal zu reden.«
Er sprach mit einer Kälte in der Stimme, die ihn selbst erschreckt hätte, wäre sie ihm bewusst geworden. Brüsk drehte er sich um und stapfte zu Circendil zurück. Finns Mantel flatterte im Wind und löste sich beinahe von seinen Schultern, doch es schien ihn nicht zu scheren.
»Oh ja, das werden wir. Von Amts wegen und mit aller gebotenen Strenge«, murmelte Mellow hinter ihm her. Er war sich nicht sicher, ob Finn ihn überhaupt hörte.
10. KAPITEL
Fuíl Vahogath
» W ORTE VERMÖGEN MANCHMAL T ROST zu spenden«, sagte Circendil. »Doch sie bringen die Dahingeschiedenen nicht zurück. Noch können sie Trauer lindern. Ich sage daher nicht: mein Beileid. Dennoch sage ich: Möge die Hülle deiner Mutter in Frieden ruhen. Ihr Geist ist nun frei, zu schauen die unzähligen Wunder, die Aman den Lebenden vorenthält, um sie allein den Befreiten zu offenbaren.« Der Mönch zeichnete den λ-Buchstaben über Finns Stirn, ehe er sich niederbeugte und ihn umarmte. »Aman wird sie willkommen heißen, denn von ihm ist sie gesandt worden, und zu ihm kehrt sie zurück.«
Finn nickte stumm.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Circendil, während er sich aufrichtete.
»Was getan werden muss«, erwiderte Finn scharf. »Mit Gasakan reden. Den Ort des Überfalls aufsuchen. Ich will den Hergang verstehen. Ich will wissen, was und warum es geschehen ist. Vielleicht finde ich eine Spur. Später werde ich mit Papa sprechen. Falls er dazu fähig ist. Ich erkenne ihn kaum wieder. Und dann? Ich weiß es nicht. Ich werde ihn heim nach Moorreet bringen müssen. Hier wird er nicht bleiben wollen, sobald er erfährt, dass seiner Werkstatt Gefahr droht. Ich meine, ich hoffe zumindest, dass seine Sorge ihm dabei helfen wird, seinen Kummer zu bezwingen.«
»Vielleicht wird es das.
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