Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Straße verlassen hatten und der schwachen Spur gefolgt waren. Sie waren nebeneinander gegangen, und ihre Spuren waren selbst für Ungeübte leidlich zu erkennen: Flach nach vorn niedergedrückte Halme zogen sich wie ein dunkles Band durch das Gras.
»Sie sind vor einer halben Stunde hier entlanggegangen«, sagte der Medhir. »Sie werden ganz in der Nähe sein. Kommt.« Er saß ab, schritt mit seinen langen Beinen weit aus und führte Gwaeth zu einer Gruppe von Bäumen. Finn und Mellow folgten ihm. Je weiter sie kamen, desto deutlicher wurden indes die Abdrücke. Der Wagen, das sahen sie jetzt, war viel zu schnell gelenkt worden: An manchen Stellen war er geschlittert, in den Kurven hatten die ausrutschenden Räder das Gras ausgerissen und die Erde aufgewühlt. Der Mönch bückte sich immer wieder, ehe er sich endlich aufrichtete.
»Wer immer diesen Wagen gelenkt hat: Er war nicht nur in höchster Eile, sondern war auch von Angst getrieben. Seht hier – das eine Rad streifte diesen im Gras liegenden Stein und stieß ihn grob beiseite.« Er drehte den Stein um und fuhr mit dem Finger über eine weißlich-metallen schimmernde Stelle, eine Furche mit harten Graten. »Hier traf ihn das Rad. Und zwar mit großer Wucht. Er rollte von dort bis hier zu meinen Fuß. Um einen Stein dieser Größe soweit zu stoßen, bedarf es eines ziemlich heftigen Rucks. Was schließt ihr daraus?«
»Der Wagen fuhr halsbrecherisch schnell!«, antwortete Mellow. »So schnell, wie es niemand ohne große Not tun würde. Dieser tat es. Ein Wunder, dass er sich nicht bei dem Hindernis die Achse brach oder sich gar überschlug.«
Circendil ging weiter und betrachtete die lange Reihe der Bäume: Nadel- und Laubgewächse, vor allem Latschen und windzerzauste Lärchen, bildeten mit Dickichten von Schwarz- und Kreuzdornen einen langgezogenen Saum, zwischen deren bemoosten Stämmen undurchdringliches Unterholz wucherte. Mächtige Farne streckten ihre Arme aus, und Efeu rankte allenthalben. An einigen Stellen welkten umgeknickte Farnwedel oder waren ganz aus der Erde gerissen; der Wagen war so dicht unter den überhängenden Ästen der Bäume entlanggelenkt worden, wie es nur irgend ging.
»Seltsam«, murmelte der Davenamedhir und nahm einen der abgebrochenen Zweige zur Hand. »Wer so eng einen Waldsaum streift, dem schlagen die Äste ins Gesicht. Auch das würde niemand klaren Sinnes tun. Es sei denn …« Circendil blickte nach oben und nickte dann.
»Was meinst du?«, fragte Finn.
»Das ist doch suppenklar und liegt auf der Hand.« Mellow rollte mit den Augen.
»Bitte, keine Scherze und Rätselspiele mehr jetzt.«
»Wer scherzt denn?«, gab Mellow zurück. »Und ein Rätsel ist nur solange eins, bis man es löst, nicht wahr? Das hier war tatsächlich kein Spiel, sondern tödlicher Ernst.«
»Sagte schon unser werter Mönch hier. Wovon sprichst du?«
Mellow schob seinen Hut in den Nacken. »Na, stell dir vor, du bist wieder mit deiner Ladung für Herrn Banavred unterwegs. Du denkst an nichts Böses. Plötzlich hörst du Flügelschlag, vielleicht auch einen Schrei – du weißt, was ich meine, keinen Adlerschrei. Du blickst dich um, fährst auf und siehst dunkle Schwingen über dir, so groß, dass du einen heillosen Schrecken darüber erfährst. Klauen strecken sich nach dir aus, ein unglaublich hässlicher und gefährlicher Schnabel beginnt, nach dir zu hacken. Frage: Was tust du?«
»Ich treibe mein Pony an, damit – ah, ich verstehe. Die halsbrecherische Geschwindigkeit. Und weiter?«
»Weiter willst du den Klauen und dem Schnabel entkommen. Da siehst du diesen Waldzipfel oder was es ist. Du hältst darauf zu und denkst: Meine Rettung! Unter den Bäumen bin ich sicher! Aber dazu müsstest du erst mal eine Lücke finden. Nur gibt es hier keine. Du kannst nicht anhalten, du kannst dich nicht unter die Bäume retten. Was tust du folglich? Du lenkst den Wagen so dicht wie überhaupt möglich an den Rand heran, auch wenn dich ein paar der Äste streifen. Drauf gepfiffen! Du hoffst inständig auf eine Schneise oder darauf, dass die Stämme ein wenig zurücktreten und du hineinkannst. Alles ist besser, solange der große Vogel über dir dich nicht erwischen kann. Ob Stock oder Stein, du treibst dein Pony immer weiter und weiter an, bis es in höchster Furcht entkommt – oder du den rettenden Waldweg erreichst.«
»Gut gedacht, Mellow«, nickte Circendil. »Das ist auch meine Lesart. Ich fürchte nur, dass beides
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