Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
zerknirscht.
Aber war es das wirklich? Ein letztes Mal schaute er den Fluss hinauf. Nebel kräuselte sich, über dem die erwachenden Bäume nickten. Was er halb und halb befürchtete, fand er nicht: einen Criarg, der suchend über den Auen kreiste.
Finn schnappte sich die Wasserflasche und begann zu rennen. Er eilte über den Trampelpfad zurück und querte im Laufschritt den Hof.
Das Tor der Scheune stand offen. Er warf einen Blick hinein und sah den Dwarg auf seinen Decken liegen. Keine Tallia. Sie wird noch bei den Schmieden im Wohnhaus sein, hämmerte sein Herz. Dahin hatte er sie geschickt, dass sie um ein wenig Nahrung bäte, ehe er zum Fluss hinuntergegangen war.
Er lief zu Glimfáin hin und fand ihn schlafend. Er lehnte die Wasserflasche gegen den Helm, wippte einen Moment unschlüssig auf den Zehen und warf sich herum.
Mit vier, fünf schnellen Schritten war er wieder auf dem Hof.
»Ich habe keine Zeit«, sagte er; und indem er es sich sagte,wurde ihm der längst gefasste Entschluss selber klar. »Keine Zeit zu verlieren, mich lange zu erklären. Keine Zeit, um auch nur Smod zu satteln und zu den Marschwiesen zu reiten.«
Stattdessen lief er zu der Stelle, an der Glimfáin am Nachmittag durch das Unterholz gebrochen war, drückte sich wie tags zuvor durch die beiseitegebogenen Äste und tauchte ein in das Schweigen des Waldes.
Wie lange er gestern gelaufen war, wusste er nicht zu sagen. Zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Aber er kannte den Weg; und er folgte ihm im Dämmerlicht, so rasch ihn seine kleinen Füße nur tragen wollten.
Vielleicht, so umfing ihn eine vage Hoffnung, vielleicht kam er dem Ledir noch zuvor, fand die Axt und konnte ungesehen damit im Ried verschwinden, nicht auffälliger als ein Rascheln des Windes im Schilf. Ehe ein Schaden entstand, dessen Folgen er nicht einmal abzusehen im Stande war. So lief er dahin, ein kleiner Schatten unter den mächtigeren Schatten der Bäume, und seine trippelnden Schritte schienen ihm ein einziges Knacken und Tapsen zu sein, das die Erlen und Buchen und Hartriegelsträucher laut zurückwarfen und das den erwachenden Wald erschreckte. Er umlief, Glimfáins immer noch deutlich sichtbarer Spur folgend, die nassen und modrigen Stellen des beginnenden Sumpfes und rannte abermals durch die Schneeballsträucher, bis er die Mulde erreichte, hinter der die Marschwiesen begannen, über die jetzt am frühen Morgen Fetzen von Nebel krochen.
Er blieb stehen und betrachtete kopfschüttelnd die breiten Fußstapfen des Dwargs, in denen er sich anderntags aus der Senke emporgekämpft hatte: schon hinkend und zusätzlich mit den Händen das Laub zur Seite schaufelnd, auf der Suche nach Halt gebenden Wurzeln.
»Das ist eine weitere Möglichkeit, die ich völlig übersehen habe.« Was bin ich für ein einfältiger Tor, dachte Finn angesichts der überdeutlichen Spuren mit stechend klopfendem Herzen.
Der Ledir könnte durchaus seine Suche bis unter die Bäumehin ausdehnen – und er würde dabei zwangsläufig auf Glimfáins Fährte stoßen: der aufgewühlte Waldboden, die zerbrochenen und abgesplitterten Zweige, die Spritzer angetrockneten Blutes. Alles Zeichen, deren dunkle und helle Stellen unübersehbar waren. Er brauchte der Spur nur rückwärts folgen, um die Schmiede zu finden und alle, die sich dort aufhielten.
Und wenig später, dachte Finn schaudernd, würde das Feuer von Ulúrcrum alles versengen und töten, was dort lebte. Guan Lu musste dafür nicht mehr tun als zuzuschauen. Er konnte in seiner Heimtücke gemächlich abwarten, bis die Feuerperlen erloschen und alles bis auf die Ecksteine niedergebrannt war. Am Ende würde einzig und allein die Gilwe unbeschädigt in der Asche liegen. Eine lächerlich leichte Beute: Ein Reisigbesen würde genügen, um zu enthüllen, wonach es ihn verlangte.
Ich darf ihm keinen Grund geben!, erkannte Finn atemlos. Keinen Anlass, weiter nach Glimfáin zu suchen. Wenn der Ledir überhaupt nichts fand, weder den Dwarg noch dessen Axt, so würde er … ja, was würde er? Finn merkte, dass er sich in seinen Mutmaßungen zu verrennen drohte, denn am Ende blieb es vollkommen ungewiss, was Guan Lu nun tun würde oder auch nicht. Aber die Axt würde ein Zeichen für ihn sein weiterzusuchen, so viel glaubte er immerhin deutlich zu erkennen; und eben das galt es zu verhindern. Deshalb wollte er Glimfáins Axt finden, bevor der Ledir auf sie stieß.
Er rutschte, Glimfáins Stiefelabdrücke als Treppenstufen nutzend, hüben
Weitere Kostenlose Bücher