Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
hattet ihr andere Dinge im Kopf als eine leichtfertig fortgeschleuderte Axt. Und wenig Sinn für die Kümmernisse eines verantwortungslosen Narren, wie ich es bin. So machte ich mir stumme Vorwürfe, denn Nemandáur wurde mir anvertraut.« Er hielt inne, um gleich darauf zu stutzen. »Aber wartet. Wartet! Nemandáur hing an Finns Sattel, sagtest du? Dann hast du sie also gefunden, mein kleiner Vahatir? Und bist gar deshalb fortgelaufen?«
Alle Augen richteten sich wieder auf Finn.
»Na ja«, sagte dieser. »Gesucht habe ich sie, das stimmt. Mir fiel plötzlich ein, dass sie immer noch draußen in den Binsen lag. Und jeden Moment von Guan Lu entdeckt werden konnte. Ich wollte sie ihm nicht überlassen. Ich nahm an, sie sei vielleicht so wertvoll wie Maúrgin.«
»Vielleicht so wertvoll?« Glimfáin stöhnte auf. » Vielleicht? Bei Rumóins Schlüssel!« Er brach ab und lachte, ein befreites, erleichtertes Lachen, in dem er allerdings seinen Bart vor Schmerzen verzog, weil er versehentlich seine Beine berührte. »Ja«, sagte er und drückte die Axt an sich wie ein verloren gegangenes Kind. »Sie ist wertvoll, mein kleiner Vahatir. Mehr, als du ermessen kannst. Doch jetzt sage uns, wie du sie gefunden hast.«
Finn berichtete von seinen morgendlichen Überlegungen und weshalb ihm ein sofortiges Handeln so dringlich erschienen war. »Ich hatte einen oder zwei Gedanken, aber keinen fertigen Plan. Ich lief einfach los, aber nicht fort, Herr Abhro. Nur um das klarzustellen. Was indes den Ledir betrifft, traf meine Befürchtung vollends zu. Er fand Glimfáins Axt vor mir. Genau genommen habe ich sie ihm gestohlen. Na ja. Und die Strafe folgte auf dem Fuße – auf dem Krallenfuß, sozusagen.«
Er erzählte in groben Zügen, was danach geschehen war. Tallia hielt seine Hand gepresst und saß stocksteif neben ihm, als säße sie selbst vor Furcht erstarrt auf dem schwankenden Vogelrücken. Sie fand erst zu neuem Atem zurück, als er seine Rettung durch die Rohrammers beschrieb. Nur die Froschschenkelsuppe ließ er aus und beeilte sich, mit seinem Bericht bis nach Moorreet und zu seinem Gespräch mit Abbado Zeisig zu kommen. Am Ende zog er die Tassel seiner Mutter aus der Tasche und zeigte sie vor.
Circendil nahm sie und musterte die Mantelschließe scharf. »Ja«, sagte er. »Das ist zweifellos Blut. Und höchstens zwei Tage alt.«
»So ist meine Mutter oder jemand in ihrer Nähe verletzt worden«, meinte Finn an den Mönch gewandt. »Vorhin erwähntest du, wir müssten uns über die neuen Gegebenheiten abstimmen. Nun, hier ist eine weitere. Wenn meiner Mutter etwas zugestoßen ist, muss ich mich darum kümmern. Ich kann sie nicht allein einem unbekannten Schicksal überlassen! Wie aber soll ich das, da ich dir versprochen habe, dir bei deiner Suche zu helfen? Wieder einmal weiß ich mir keinen Rat.«
»Gräme dich nicht«, sagte Circendil. »Es gibt womöglich einen einfachen Weg, beides miteinander zu vereinen. Während deiner Abwesenheit ist manches geschehen, vom dem du noch nichts weißt. Lass mich raten: Du willst nach Vierstraß und Aarienheim, um dort nachzusehen, nicht wahr?«
»Ja.«
»So können wir bis dahin gemeinsam reisen; danach werden wir entscheiden, was zu tun ist, je nachdem, was wir vorfinden.«
»Wieso gemeinsam …?«
»Weil wir ohnehin nach Sturzbach müssen«, platzte Mellow heraus, der nicht länger an sich halten konnte. »Vierstraß und Aarienheim liegen beide auf unserem Weg.«
»Aber wieso …?«, setzte Finn zum zweiten Mal an, doch er wurde von Circendil unterbrochen.
»Einen Schritt nach dem anderen«, bat er. »Aarienheim und Sturzbach müssen vorerst warten. Jetzt und hier gilt es, vordringlich für Glimfáin zu sorgen. Seine Anwesenheit im Hüggelland bekannt werden zu lassen, wäre ein Fehler. Es würde weitere Unruhe oder gar Furcht unter den Vahits auslösen. Ein weiterer Fremder im Hüggelland! Am Ende wird er noch für einen Feind gehalten, und irgendein übereifriger Bogenschütze lässt erst die Sehne schnellen, ehe er denkt. Wir sollten darum den Kreis derer, die von ihm wissen, so klein wie irgend möglich halten. Daher ist in diesem Punkt die entscheidende Frage die: Darf Glimfáin bis zu seiner Genesung als dein Gast bei dir bleiben, Abhro?«
»Na, was denn sonst?«, murmelte der Schmied. »Denkt ihr Menschen etwa, wir Vahits weisen einen Verletzten von uns, der unserer Hilfe bedarf?«
»Dennoch beweist du damit einen Großmut, für den wir dir Dank
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