Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
selbst; wenn sie Bhremos Frau oder Tochter war, so konnte sie entkommen.«
»Wer … Waren sie es?«
»Gidrogs? Ich bin fast sicher.« Circendil nickte, um seinen Kopf gleich darauf zu schütteln. »Das alles ist höchst merkwürdig. Was sie hier wollten, begreife ich nicht. Der Überfall liegt überdiesnoch nicht lange zurück. Gestern Abend, denke ich. Oder am späten Nachmittag.«
»Als ich Glimfáin in den Marschwiesen begegnete«, überlegte Finn. »Am Tag seines Kampfes gegen den Ledir. Besteht da ein Zusammenhang? Oder ist es Zufall?«
»Zufall? Alles, was derzeit im Hüggelland geschieht, steht in einem tieferen Zusammenhang. Wir kennen die Pläne des Feindes nicht und können nur mutmaßen.«
»Da wir gerade von Merkwürdigkeiten und vom Mutmaßen reden – mir geht da etwas im Kopf herum und findet von selbst nicht mehr heraus, sozusagen. Es ist … Die Dwarge nennen sich doch selbst Gidwargim, richtig?«
»So lautet der alte Name ihres Volkes, ja. Weshalb fragst du?«
»Es ist nur … mir fiel es einfach auf. Gidwarg und Gidrog . Die beiden Bezeichnungen ähneln einander mehr, als sie sollten, finde ich. Ist hier mehr als ein Zufall im Spiel, Circendil? Nachdem ich Glimfáin kennengelernt habe, nein, schon während der gestrigen Hatz durch den Wald, da stellte ich mir vor, wie er neben einem Gidrog aussähe, und ich komme immer wieder zu demselben Ergebnis: Sie hätten nicht nur die gleiche Größe, sondern auch die gleiche Breite, die gleiche Länge und Beschaffenheit von Armen und Beinen, von allen Bärten sowie Schuppen und Hauern im Gesicht einmal abgesehen. Abhro und seine Gesellen nannten ihn ein ›haariges Biest‹, und wenn mich meine Augen nicht sehr täuschen, so ist Glimfáins Gidwarghaar von dergleichen Beschaffenheit und Farbe wie die dicken Zotteln der Gidrogs. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, das ist alles. Und doch fühle ich, es könnte wichtig sein.«
Circendil beugte sich vor, und sein Gesicht wirkte düster und wie von Schatten umwölkt. Doch seine Augen funkelten lebhaft im flackernden Licht des Kerzenstummels. »Aman gab dir wahrlich Weitblick und Scharfblick zugleich. Dein Auge trügt dich nicht. Erinnere dich an Fárin Goldhand. Als er in Ulúrlim gefangen war, wurde er gefoltert. Lukather verstand und versteht sichdarauf, Natürliches zu Unnatürlichem zu entarten. Die Gidrogs? Nun, es sind seine Züchtungen, nehme ich an; niemals war derlei Abscheulichkeit in Amans Plänen für seine Schöpfung vorgesehen. Wo aber gezüchtet wird, muss es zuvor etwas geben, das genommen und gewandelt wird, zu Gutem oder Bösem. Lukather nutzte Fárins Anwesenheit gleich mehrfach, fürchte ich; er nahm Fleisch von Fárins Fleisch oder Samen von seinem Samen und tat damit Unsägliches. Am Ende kamen verfremdete, aber dennoch den Dwargen entfernt ähnelnde Wesen dabei heraus, wie du richtig erkannt hast. Die Dwarge selbst sprechen nicht darüber, aber ihre Blicke verraten sie, sobald die Rede auf Gidrogs kommt. Auch die Criargs sind gewiss ebenso Lukathers Händen entsprungen, sie sind andere unnatürliche Ausgeburten seiner widerlichen Künste, da verwette ich mein Schwert. Und ich frage mich in meinen schlimmsten Träumen, welche fürchterlichen Wesen noch in den Tiefen Uúrlims heranreifen. Oder schlimmer: schon herangereift sind?« Der Davenamedhir fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er die Schatten fortwischen, die ihn jäh umfingen. Dann heiterte sich sein Gesicht unvermittelt auf, und er deutete auf Finns Armbeuge.
»Doch sage, wie geht es dem armen Hund?«
»Er ist satt, glaube ich. Und unendlich müde.« Finn lächelte ob der großen Hundeaugen, die ihn genau beobachteten, obwohl sie dem Welpen vor Müdigkeit immer wieder zufielen.
Er trug den jungen Hund nach wie vor auf dem Arm und streichelte unablässig das verschwitzte Fell. Das Fiepen zumindest war vorerst verstummt.
Circendil hob einen am Boden liegenden Becher auf und stellte ihn gedankenverloren auf den Tisch. »Ich will es einmal wagen«, sagte er und blickte aus einem der Fenster. »Ich meine, ich will versuchen, eins und eins zusammenzuzählen. Obwohl ich fürchte, ich werde nur anderthalb dabei herausbekommen. Zu vieles liegt noch im Dunkel verborgen. Was wissen wir also? Sie waren hier und haben die Bewohner dieses Brochs überwältigt.Nun gut. Ich frage mich: Warum gerade diesen Broch, Finn? Weil er die Furt und die Straße bewacht? Nehmen wir einmal an, das sei der Grund. Die
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