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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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»Warte«, sagte der Medhir. »Ich höre wieder etwas. Vernehmt ihr es nicht? Was ist das?«
    Alle lauschten still.
    Jetzt, da Finn die Ohren spitzte, war es ihm, als läge im Singen des Windes noch ein anderer Ton verborgen, wie ein weinendes Hecheln, das alsbald verschwand und wiederkehrte und in ein klägliches Wimmern überging, ehe es wieder schwieg. Finn wurde bewusst, dass er dieses Geräusch schon die ganze Zeit über vernommen, aber nicht weiter beachtet hatte, im Glauben, es sei der Wind, der in den zitternden Gräsern seufzte und um die Mauerkanten strich.
    »Es klingt, als ob jemand verletzt sei«, vermutete Mellow.
    »Ja«, sagte Circendil. »Aber nicht nur am Leibe, sondern mehr noch an seiner Seele. Herr Bholobhorg hat Recht. Wir werden nachsehen, aber zugleich Vorsicht walten lassen. Lockert eure Waffen, und bleibt auf der Hut!« Damit setzte er sich an ihre Spitze, und die Ponys wateten mit hoch erhobenen Köpfen durch die breite Furt. Das Wasser schwappte den Tieren bis an die Brust und reichte ihren Reitern bis zu den Steigbügeln; die Vahits zogen die Beine an, und Circendil vollbrachte gar das Kunststück, auf Gwaeths Rücken zu knien, ohne dabei herabzufallen.
    Er strafte damit seine früheren Worte Lügen: Sie alle, mit Ausnahme der Ponys, schafften es trockenen Fußes auf die andere Seite.
    Drüben stiegen sie ab und führten ihre Reittiere im Gänsemarsch den Zickzackweg hinauf. In jeder der fünf Kehren hielten sie kurz an und vergewisserten sich, den weiteren Weg frei und unverdächtig vorzufinden. Als sie endlich oben angekommen waren und das zaun- und heckenlose Brada betreten hatten, sammelten sie sich unter dem Schild des Furtlerbrochs. Niemand begegnete ihnen. Alle Fenster waren dunkel. Nur der Mond beschien die Straße. Mit jeder Wegkehre war der klagende Laut deutlicher und zugleich ängstlicher geworden; und als sie jetzt lauschten, erkannten sie, woher er kam. Er rührte von innerhalb des Brochs her.
    Circendil zog sein Schwert. »Etwas oder jemand weint dort drin«, sagte er.
    »Oder wimmert   – in großer Angst.« Finn zuckte zusammen, als das Geräusch abbrach, als habe es seine Worte gehört.
    Sie lauschten angestrengter. Das Klagen kehrte nicht wieder. Jetzt hörten sie nur noch den Wind, der um die Brochmauer strich. Das abgeblätterte Schild über ihren Köpfen knarrte, als mache es sich über sie lustig. Dann wieder zitterten die Kettenglieder und klirrten leise.
    »Wir sehen nach. Nur Finn und ich. Ihr anderen bewacht Weg und Tür.«
    Mit einem seiner langen Beine stieß Circendil die nur angelehnte Tür zur Gänze auf. Vorsichtig bückte er sich und trat in das dunkle Gebäude hinein. Finn zog Maúrgin und folgte ihm zögernd nach, tastend wie ein Blinder; der strenge Geruch traf ihn wie ein Hammerschlag.
    Ein Windzug ergriff die Tür und schwang sie zurück ins Schloss. Sogleich legte sich ihm die schwere Innenluft wie ein Gewicht auf die Brust.
    Etwas zitterte in der Schwärze vor ihnen. Ein Schaben, als striche ein Rattenschwanz über den Dielenboden. Der Geruch wurde schneidend scharf und kam Finn zugleich vor wie ein dichter, undurchdringlicher Nebel. Er verharrte und fühlte Circendils Hand, die sich beruhigend auf seine Schulter legte.
    »Hab keine Angst«, sagte er.
    Finn nickte und dachte nicht einmal daran, dass der Mensch ihn in der Schwärze überhaupt nicht sehen konnte. So standen sie, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schemenhaft erwuchsen Kanten und Formen um sie herum, Lehnen von Stühlen und die Ecken eines Tisches. Finn blickte sich um,und dann sah er zwei blasse Lichter zwischen zwei Stuhlbeinen hervorschimmern: zwei große Kreise, flimmernd wie Pfützen. Ein stoßweißer Atem ging von ihnen aus, und Finn erkannte sie als weit aufgerissene Augen, die sie beobachteten.
    Und eben, als er wusste, was er da vor sich sah, setzte das klägliche Wimmern wieder ein. »Hab keine Angst«, wiederholte Circendil, und Finn begriff erst jetzt, dass schon die vorherigen Worte gar nicht an ihn gerichtet gewesen waren. »Wir tun dir nichts. Ganz ruhig. Hab keine Angst.«
    »Wir brauchen Licht«, sagte der Davenamönch.
    Es raschelte, als der Mensch in seinen Taschen suchte; dann schlugen Funken, es roch nach Feuerstein, und etwas glomm auf. Einen Augenblick später flackerte eine Kerze, und Circendil hob sie hoch, die Flamme mit der hohlen Hand gegen den Windzug schützend. Schatten sprangen auf und flohen zu den Wänden, und im zuckenden Licht

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