Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
vertreiben, und griff ihn an. Sie muss mit dem verzweifelten Mut aller Mütter und der Todesverachtung der Otu Atruma gekämpft haben, denn diese Hunde setzen für ihren Nachwuchs ihr Leben aufs Spiel. Die Hündin verletzte den Gidrog schwer, aber sie selbst wurde ebenso schwer getroffen. Sie fand die Tür des Brochs offen – vielleicht lockte ihr Gebell den Wache haltenden Gidrog überhaupt erst heraus – und sie suchte mit letzter Kraft zu ihrem Jungen zu gelangen. Der Gidrog hingegen schleppte sich hier hinein, wo er starb.«
Er sah die Vahits eindringlich an.
»Ja, so deute ich diese neuen Zeichen. Da sie einen Wachtposten zurückließen, werden sie wiederkommen. Es kann dafür nur den einen Zweck geben, den ich schon nannte: um die Furt zu besetzen. Das heißt, ihr eigentlicher Angriff auf das Hüggelland steht in Kürze bevor. Noch warten sie, und ich ahne nicht einmal, worauf. Aber sie beginnen, die Schlinge enger zu ziehen, und uns läuft die Zeit davon. Doch kommt! Lasst uns zu den anderen Häusern gehen. Wenn sie hier waren …« Er sprach nicht weiter, sondern ging zu den Ponys zurück.
Mellow drückte die Tür des Schuppens zu. Die drei Vahits sahen sich an, und in Bholobhorgs Augen lag ein neuer Ausdruck; fast vermeinte Finn ein erstes Dämmern darin zu entdecken, ein fahriger Glanz, als erwache jemand aus tiefem Schlafe und finde widerstrebend zurück in die Wirren einer Welt, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.
Circendil riet Finn, sich aus einem Stück Stoff eine Trage zu schlingen, in die er Inku während des Rittes legen konnte. »Wir suchen derweil die übrigen Häuser ab.«
Finn nickte gedankenverloren und begab sich zurück in den Furtlerbroch. Alles, was er fand, war ein Stück Vorhang, das er sich passend auseinanderriss. Hinaufzugehen und in den oberen Stockwerken zwischen den Leichen der erschlagenen Vahits nach etwas Geeigneterem zu suchen, getraute er sich nicht. Er knüpfte eine Schlinge, legte sie sich um den Hals und setzte Inku vorsichtig hinein. Der Welpe schnupperte an der behelfsmäßigen Trage, erkannte den Geruch und kuschelte sich hinein.
Finn zog die Tür hinter sich zu und trat zu den wartenden Ponys. Smod schnaubte neugierig, als er das Fellbündel in der Tuchfalte sah, doch zeigte er keine Scheu; in Rudenforst war er einigen Hunden begegnet und verstand, was die neue Witterung bedeutete.
Obwohl Räuschelfurt nur aus neun Häusern bestand, warendie Gefährten noch nicht zurück. Finn hörte nichts als den Wind und das schaukelnde Wirtshausschild an seiner Kette, und er fröstelte, während er wartete.
Nach einiger Zeit vermeinte er, die Zurückkommenden zu hören oder zumindest den schweren Tritt des Menschen, seltsamerweise nur nicht aus der Richtung, in die die drei gegangen waren. Er lauschte, und richtig, da waren Schritte in der Nacht. Sie kamen von der rückwärtigen Seite des Brochs, als näherten sie sich der Hütte, in der der tote Gidrog lag.
Finn wollte ihnen schon entgegengehen, da fuhr eine jähe Unruhe unter die Ponys wie ein Windstoß, der in einen Heuhaufen schlug. Ihr ängstliches Schnauben war Warnung genug; sie sprangen gleichzeitig auseinander, suchten Platz, um mit den Hinterhufen ausschlagen zu können. Vanku stieß an Finn und hätte ihn fast umgeworfen, sodass er den festen Stand verlor und drei, vier Schritte zurücktaumelte. Der junge Aterar knurrte und winselte abwechselnd und sprang erschrocken, ehe es Finn verhindern konnte, aus der Trageschlinge. Wieselflink jagte er davon und suchte Schutz in der Dunkelheit. Finn machte den Fehler, ihm nachzusehen, verlor Zeit damit, nach ihm zu rufen. Smods alarmiertes Wiehern zerriss die Nacht, dem ein das Blut gefrierender Schrei antwortete.
Inkus Winseln brach ab.
Finn erhielt einen Stoß in den Rücken, der ungleich stärker ausfiel als Vankus Anrempler zuvor. Alle Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor und durch die Luft flog: fünf, vielleicht sechs Klafter weit. Mit dem Gesicht landete er in einer matschigen Pfütze, überschlug sich, rutschte weiter, rollte durch den Schwung auf den Rücken und schrie auf vor Schmerzen. Über ihm zuckte etwas: Ein hackender Criargschnabel schnitt ins Leere! Finn spürte, wie die fürchterliche Atemlosigkeit wieder von ihm Besitz ergreifen wollte, dieses entsetzliche Gefühl des Luftholenwollens, wo es doch nicht gelang. Aber dieses Mal lähmte ihn der Aufprall nichtoder nur
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