Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
im hohen Gras, über das wimmernd der Wind strich. Schwach erkannten sie an der Kante der Klippe, dicht an der Straße gelegen, die Umrisse eines mächtigen Broches, der von ihrem niedrigeren Standpunkt wie der vergessene Turm einer alten Zeit wirkte: rund und grau, steinern und einsam wachend ragte er auf. Düster blickte er über das schweigende Land. Ein Schild schwang an einer Kette vor der zur Straße gekehrten Tür. Finn meinte, ein leises Klirren zu hören, war sich aber nicht sicher.
Das war der Furtlerbroch – das älteste Gebäude der Siedlung und eines, das laut seines Schildes standhaft von sich behauptete, ein Gasthaus zu sein. In Wahrheit vermietete der Wirt zwei kaum nennenswerte Kammern an Durchreisende. Schlechtes Wetter konnte einen in Räuschelfurt zwingen, auf ein Abschwellen des Flusswassers zu warten, was im Frühjahr oft genug vorkam, wenn die Räuschel nicht mehr räuschelte, sondern vor allzu vielem Schmelzwasser förmlich rauschte .
Bei heftigem Wind drohte dann auch dem neuen Kahn des Wirtes Gefahr, überlegte sich Finn. Unwillkürlich suchte er nach dem Gefährt und sah drüben einen unförmigen, schwarzen Flecken am Ufer. Ein schmaler Streifen Gras säumte dort den Fuß der Klippe; dahinter erhob sich die Wand aus kalkigem Gestein. Zwei oder drei weitere Häuser standen jenseits ihrer Kante ein Stück den oberen Hügel hinauf. Bis auf ihre Dächer waren sie vom anderen Ufer aus nicht sichtbar an den Hang geduckt und hinter Hecken versteckt. Ein halbes Dutzend andere Gebäude, von denen sie nur die Kamine sahen, drückte sich an einen oberhalb der Klippe aus dem Hügel hoch vorspringenden Felsblock. Zusammen bildeten die neun Häuser das Brada Räuschelfurt. Verschiedene Obstgärten gab es hier, erinnerte sich Finn, und die ansässigen Vahits kelterten namhafte Weine, von denen vor allem der aus Brombeeren gewonnene Brummbaren seinem Namen alle Ehre machte.
Alles war still dort im Schweigen des späten Abends.
In keinem der Fenster brannte ein Licht. Das erschien Finn ungewöhnlich, aber vielleicht gingen die Räuschelfurter allgemein früh zu Bett. Aber auch in den schwankenden Lampen anden Furtlerpfosten brannten keine Flammen, und das sollte erst recht nicht sein. Zu den grundlegenden Aufgaben des Furtlerwirtes zählte es aber, die Lichter in Gang zu halten, meinte Mellow, und Bhobho pflichtete ihm bei. Besonders in dunklen Nächten konnte es solchen, die nicht aufpassten, durchaus geschehen, vom geraden Wege abzukommen. Wer dabei die Furt verfehlte, wurde leicht vom tieferen Wasser mitgerissen.
»Na, da wird sich ein gewisser Herr Bhremo aber einen saftigen Tadel einhandeln«, sagte Mellow entrüstet.
Bhremo Kannin war der Name des Furtlerwirts; die Kannins waren eine der ältesten Familien des Obergaus. Es hieß, sie seien früher einmal wohlhabend gewesen, zu Zeiten, als sie noch den Furtzoll erheben durften; doch mit dem Fortfall dieses Rechtes waren sie in die Bedeutungslosigkeit zurückgesunken. Spitzere Bemerkungen legten nahe, dies läge nicht am fehlenden Zoll, sondern am zu regen Zuspruch zum Brummbaren, dem früher oder später alle Furtlerwirte verfielen. Die bösesten von allen Zungen behaupteten gar, der Name Räuschel gelte gar nicht dem Fluss, sondern wäre dem Wasser nur stellvertretend verliehen worden; der wahre Grund für die Namensgebung erkläre sich gewissermaßen von selbst. Wie dem auch sein mochte: Seit undenklichen Zeiten hielten die Kannins das Gasthaus in ihrem Besitz – und sie erhielten für ihre Furtwacht ein angemessenes Entgelt aus dem Hüggellandschatz. Das aber bedeutete, ihre Lichter hatten des Nachts zu brennen. Komme, was da wolle, und ganz so, wie es die Vorschriften verlangten, murrten Mellow und Bholobhorg in seltener Eintracht. Allerdings hielt der Friede kaum einen Atemzug lang.
»Das gibt’s eben nur im Obergau«, nörgelte Bhobho.
»Was willst du damit sagen?«, fuhr Mellow ihn an.
»Na was schon? Im Untergau gibt’s keine Furt, wie du wissen solltest – das will ich damit sagen. Abgesehen davon: Lasst uns jetzt vor allem prüfen, weshalb Bhremo seine Lichter hat verlöschen lassen. Hier gibt es zumindest noch einen Landhüter, der seine Pflichten kennt.« Er warf die Kapuze zurück und rückteseinen Hut zurecht. Anscheinend hatte er sich wieder gefangen und den Schrecken des Mürmelkopfes abgeschüttelt. Er packte seinen Stab fester und wollte sein Pony ins Wasser treiben, aber Circendil griff ihm in die Zügel.
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